Die geheimnisvolle Schachtel

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"Ich verstehe ehrlich gesagt immer noch nicht, warum wir da hinmüssen", quengelte Holmes nachdem ich auf ihn zugetreten war um seine Krawatte gerade zu rücken und verzog das Gesicht. 

"Man nennt es Anstand, alter Knabe. Wenn uns ehemalige Klienten zum Dank eine Einladung zum Dinner schicken, nimmt man sie auch wahr", erklärte ich im Gelehrtenton, während seine grauen Augen jeder meiner routinierten Bewegungen folgte. Ein Grinsen zupfte an meinen Mundwinkel. Dachte wohl, ich bemerke es nicht... 

"Wir können nicht noch einmal absagen! Mein Gott, was hast du heute mit deiner Krawatte angerichtet? Die ist ja komplett schief!" 

"Können wir nicht diesmal behaupten, du seist krank?"

"Wir gehen hin, keine Widerrede!", erwiderte ich mit fester Stimme und sah ihn leicht zusammenfahren. 

Daraufhin legte ich meine Hand an seine Wange, eine Geste zu zärtlich um sie nicht eindeutig interpretieren zu können falls man uns zufällig beobachtete, und fuhr im sanfteren Ton fort:

"Nur heute Abend, für mich. Ich kriege so selten die Chance, dich in diesem wundervollen Smoking zu sehen~", schnurrte ich in sein Ohr.

Wortlos drehte er seinen Kopf, schmiegte das Gesicht wie eine Katze an meine Hand und küsste sie sanft. Nichts liebte ich mehr als diese kleinen Gesten seinerseits, die oft noch, entgegen seinem sonstigen Auftreten, etwas unsicher wirkten, aber mein Herz berührten wie kaum etwas auf dieser Welt. Dennoch...zog ich meine Hand beinahe reflexartig zurück als ich seine sehnsüchtigen Küsse auf meiner Haut spürte.  Manchmal machte mich die ständige Angst, es könnte plötzlich jemand im Türrahmen stehen und uns so sehen, die wahre Natur unserer Beziehung so offen präsentiert, regelrecht verrückt... 

Sherlock bemerkte meine plötzliche Anspannung und ergriff meine Hand noch in der Bewegung, schüttelte sie beruhigend, wie er es schon so oft getan hatte. Ein mildes Lächeln formte seine dünnen Lippen zu einem leichten Bogen.

"Also gut, für dich, mein liebster John..." Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern wie er meinen Namen aussprach; der Ton ungewohnt verträumt und in den Augen, welche halb unter den Lidern verborgen waren, glitzerte etwas versteckt wie auf den Grund eines grauen Sees.

Dann ließ er sie los, wobei seine Finger meine Handfläche entlangglitten, als wollte er noch nicht, dass sie sich ganz trennten, ehe er mit einer gekonnten Bewegung seinen Hut aus dem Schrank nahm und an die Tür trat. 

"Ich rufe uns schon einmal eine Kutsche!"

Sein Kuss war kurz, kurz aber, oh so süß. Verlockend. 

"Davon gibt es mehr, wenn wir wieder hier sind~", hauchte er und verschwand durch die Tür.  Vorfreude. 

Lächelnd blickte ich in den Spiegel und glättete noch einmal meine eigenen Klamotten...bis mir etwas ins Auge fiel. Die Tür von Holmes' Kleiderschrank stand ein Stückchen offen... Bisher hatte ich nie hineingesehen, obgleich wir uns schon seit geraumer Zeit ein Zimmer teilten. Meine Klamotten bewahrte ich nach wie vor in meinem Gemach auf, und so bestand für mich auch nie ein Grund, einen Blick hinein zu werfen. Doch nun...übte diese halboffene Schranktür eine unfassbar starke Anziehung auf mich aus. Ich kann nicht genau sagen, warum,  aber im nächsten Moment schob ich sie mit dem Zeigefinger bereits vorsichtig auf. Ich kam mir unfassbar unanständig vor, beinahe wie ein Dieb, der bloß keine Spuren hinterlassen wollte... 

Neben Holmes' Alltagskleidung und unzähligen Hüten fand ich zunächst nichts außergewöhnliches, obgleich mich der Anblick einiger seiner Verkleidungen höchst amüsierte. Da war die Uniform des Captain Basils, eine Priesterrobe, Arbeiterklamotten und -was mich breit grinsen ließ- das limettengrüne Kleid, mit dem er nicht nur mich, sondern gewiss auch andere Männer an der Nase herumgeführt hatte. Über die Jahre hatte Holmes eine beträchtliche Menge Figuren geschaffen, Lestrade hatte durchaus Recht in seiner Behauptung, dass an Holmes ein wunderbarer Schauspieler verloren gegangen war. Was viele jedoch nicht wussten, war die Tatsache, dass auch der kühle Meisterdetektiv aus meinen Geschichten lediglich eine der unzähligen Rollen war, in die Sherlock Holmes regelmäßig schlüpfte. 

Holmes/Watson OneShotsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt