3. Zwischen Leben und Tod

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Dunkelheit. Nichts als Dunkelheit. Kein Licht, kein Schatten, kein Geräusch, kein Wind.
Nichts existiert noch auf diesem Planeten, was es wert ist, hier zu sein.
Es war, als befände ich mich schon gar nicht mehr auf dieser Welt. Mein Körper fühlte sich taub an, unecht, so als wäre er nur noch eine Hülle und ich dazu verdammt, in dieser Hülle zu leben, nicht imstande, auszubrechen.
Warum starb ich nicht einfach? Warum hörte mein Herz nicht einfach auf zu schlagen, meine Lungen nicht einfach auf, Sauerstoff zu atmen, mein Gehirn nicht endlich auf, mich immer wieder aus diesem Zustand, in dem ich nichts mehr fühlte, in dem überall um mich herum nur Dunkelheit war, herauszuholen?
Ich wünschte mir, einfach verrückt zu werden, so wie die Menschen um mich herum, die langsam aber sicher vor die Hunde gingen, oder - besser noch - so wie die Cranks, die ich auf meinem Weg hierher gesehen hatte, die ich getötet hatte. Oder - am aller besten - so wie Isaac, nicht verrückt, sondern einfach tot. Nichts mehr zu fühlen, keinen Schmerz, keine Kälte in der Nacht, nicht die Hitze der Sonne, die die Erde zerstört hatte, nicht die Trauer, die scheinbar alles war, was ich noch fühlen konnte. Kein Glück, keine Freude. Keine Hoffnung.
Langsam richtete ich mich auf, gab mich einmal mehr damit zufrieden, doch wieder aufgewacht zu sein, auch in dieser Nacht nicht verhungert zu sein. Noch am Leben zu sein.
Meine Gliedmaßen fühlten sich steif an, als wären sie die einer alten Frau, die ihr ganzes Leben lang gearbeitet hatte. Dabei war ich erst dreizehn Jahre alt.
Mit zitternden Fingern, blau von der Kälte der Nacht, die erst langsam von den ersten Sonnenstrahlen der Dezembersonne vertrieben wurde, öffnete ich das kleine Buch, das in meinem Rucksack gesteckt hatte, und schrieb eine Zahl hinter all die, die dort bereits standen.
342
Anfangs hatte ich noch versucht, richtig Tagebuch zu führen, in der Hoffnung, dass ich irgendwann einmal alt sein, womöglich an Isaacs Seite säße und es aufschlagen, meinen Enkeln daraus vorlesen würde. Das Kinderlachen, das ich mir dabei immer vorgestellt hatte, darüber, dass ich es tatsächlich geschafft hatte, über die schönen Geschichten, die ich vielleicht daraus vorlesen konnte, klang in meinem Kopf jetzt nur noch wie ein weit entferntes Echo.
Hoffnung. Ja, ich hatte einmal Hoffnung gehabt. Hoffnung, dass ich eines Tages glücklich werden würde, dass ich zumindest den letzten Menschen, der mir noch etwas bedeutete, diesen Jungen, der so plötzlich in mein Leben getreten war, an meiner Seite hatte. Dass es stimmte, was sie damals im Fernsehen gesagt hatten, als ich mit meinem Bruder und meinen Eltern die Nachrichten geschaut hatte. Dass sie ein Heilmittel finden und uns alle retten würden.
Doch jetzt saß ich hier und wartete auf den Tod.
Ich war es leid, mich zu verkriechen, vor Cranks wegzulaufen, mich vor anderen Überlebenden zu verstecken, aus Angst, dass sie mir etwas antun würden. Ich wollte einfach nur noch, dass es vorbei war, dass ich endlich vergessen konnte, was ich gesehen hatte, dass ich Isaacs blaue Augen endlich vergessen konnte.
Bei dem Gedanken an diesen letzten Blick, den er mir zugeworfen hatte, diesem letzten Blick in seine Augen, spürte ich schon wieder, wie Tränen in mir hochstiegen. Woher diese Tränen kamen, konnte ich mir nicht erklären, denn ich hatte seit fast zwei Tagen nichts mehr getrunken. Seit fast zwei Tagen lag ich einfach nur hier, wartete darauf, dass etwas passierte, dass es vorbei war und diese Bilder endlich aus meinem Kopf verschwanden.
Ein Schluchzer bahnte sich seinen Weg aus mir heraus, aber am Ende war er nicht mehr als ein trockenes Keuchen. Meine Kehle fühlte sich an wie Sandpapier.
Schlaff rollte ich mich wieder ein, schlang die Arme um meine Knie und schloss die Augen, hoffte, dass ich wieder in diese Dunkelheit abtauchen durfte, dass ich dieses Mal vielleicht wirklich nicht mehr aufwachen würde.
342. 342 Tage war ich jetzt schon hier draußen. Fast 4.000 Kilometer war ich gelaufen in diesen 342 Tagen. Niemals wäre ich bis hier her gekommen, wenn Isaac nicht gewesen wäre.
Warum war ich überhaupt hier? Hatte ich jemals an das geglaubt, was die Menschen sagten? Dass irgendwo im Norden der USA jemand auf uns wartete, auf Immune, die es schafften, bis dorthin zu kommen?
Wahrscheinlich nicht. Diese Widerstandsgruppe, die so sehr nach dem klang, was mein Vater von Anfang an über den Katastrophenschutz gesagt hatte, konnte nicht existieren. Er war abgehauen, weil er daran geglaubt hatte, etwas verändern zu können. Aber er war niemals zurück gekommen. Er hatte uns im Stich gelassen. Ich sollte nicht nach Menschen suchen, die waren, wie er.
Aber Isaac hatte daran geglaubt. Er hatte nicht nur geglaubt, dass es sie gab, dass sie wirklich etwas tun konnten, um uns zu helfen, uns ein zu Hause, einen sicheren Hafen bieten konnten, er hatte auch daran geglaubt, dass sie sich in Alaska versteckten. Und deshalb war ich hergekommen. Ich wäre ihm überall hin gefolgt.
Ich wusste, dass er gewollt hatte, dass ich es schaffe, dass ich diese Widerstandsgruppe fand und gerettet wurde. Dass ich keine Angst mehr vor Infizierten oder Mördern haben musste, dass ich mich nicht mehr verstecken musste. Aber ich war zu schwach. Und ich wollte auch gar nicht mehr stark sein.
Also driftete ich wieder ab, glitt wieder in einen dieser traumlosen Ohnmachtszustände, die mir so willkommen waren.

Gleißendes Licht.
Und es kam nicht von der Sonne. Es war so hell, dass ich es durch meine Augenlider sehen konnte, nicht nur leicht, sondern grell. Für einen kurzen Moment fragte ich mich, ob es wieder losging, ob die Sonneneruptionen wieder angefangen hatten, ob die Welt jetzt endgültig verbrennen würde, doch mir war schnell klar, dass dies kein natürliches Licht war.
So schwach, dass ich kaum Imstande war, meine Augen zu öffnen, stöhnte ich leise auf und blickte durch Schlitze, überrascht und verwirrt zugleich.
Dann hörte ich Stimmen. Ein Geräusch, wie von einem Scanner und ein rotes Licht, das über mein Gesicht fuhr, mich dazu zwang, die Augen wieder fest zusammenzukneifen.
"Immun", sagte ein Mann, der klang, als würde er durch eine Maske sprechen.
Ein Bild tauchte vor meinem inneren Auge auf. Ein Bild von vor vielen Jahren, als ich die Ärzte im Fernsehen gesehen hatte. Sie hatten ausgesehen wie Astronauten, hatte ich damals gedacht.
Jetzt versuchte ich wieder die Augen zu öffnen, dieses Mal weiter. Jemand leuchtete mir mit einer Lampe ins Gesicht, die heller war als das schwindende Licht des Tages. Zwei Menschen standen über mich gebeugt, der eine mit der Lampe, der andere mit einem Gerät, das aussah, als hätte es das gewesen sein können, mit dem sie eben mein Gesicht gescannt hatten, was ihnen scheinbar gesagt hatte, dass ich immun war. Aber das hatte ich längst gewusst. Es war die einzige Erklärung, warum ich nicht krank geworden war. Nicht so wie mein Bruder, wie Noah.
"Nehmt sie mit", sagte eine Frauenstimme, die unter der Maske hervor kam, die das Gerät jetzt einem in schwarz gekleideten, bewaffneten Mann reichte. "Mr. Coleson, sichern Sie die Umgebung und suchen Sie nach weiteren Immunen. Ich kümmere mich um diese hier. Sie ist ja halb tot."
"Sind Sie sicher, dass es sich überhaupt lohnt, sie mitzunehmen, Ma'am? Sie sieht so aus, als würde sie jeden Moment aufhören zu atmen", sagte der Mann, der das Gerät jetzt an einen weiteren Soldaten - zumindest hielt ich sie für solche - weiterreichte.
"Dr. Paige möchte alle Immunen. Wir bekommen sie schon wieder hin", entgegnete die Frau, die genauso aussah wie die Menschen, die ich damals für Astronauten gehalten hatte, erkannte ich jetzt, als der Mann, der ebenso gekleidet war, endlich das Licht aus meinem Gesicht nahm.
Der Strahl der Lampe fiel auf den Anzug der Frau und ich erkannte ein Logo auf ihrer Brust, das ich überall wiedererkannt hätte.
W.C.K.D.
Ich wusste, dass ich flüchten sollte, dass ich mich von diesen Menschen nicht mitnehmen lassen durfte, aber war zu schwach. Und schon wieder merkte ich, wie es mir egal wurde. Wahrscheinlich hatte der Mann, den die Frau Coleson genannt hatte, recht gehabt und ich würde sowieso jede Minute sterben. Wahrscheinlich würden diese Menschen nichts mehr mit mir machen können.
Also schloss ich einfach wieder die Augen und ließ mich von den Händen irgendwelcher Leute hochheben, auf eine Trage hieven. Jemand drehte meinen Kopf, sodass mein Nacken frei wurde, und ich spürte einen kurzen, piekenden, brennenden Schmerz dort. Wieder war ein Geräusch wie das eines Scanners zu hören.
"A6", sagte der Mann, der die Lampe gehalten hatte. "Es hat funktioniert."
"Hervorragend. Jetzt ist sie markiert", entgegnete die Frau. "Bringen Sie sie in das Berg."
Und einer der Soldaten entgegnete: "Jawohl, Miss Shepherd."

Behind The WICKED Truth | A Maze Runner NovellaWhere stories live. Discover now