21. Der Fremde

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Ich rannte, rannte so schnell mich meine Beine tragen konnten. Es war mir egal, dass es hell war, dass die Sonne noch einige Zeit brauchen würde, um unterzugehen und mir den Schutz der Schatten zu gewähren, den ich eigentlich so dringend brauchte. Es war mir egal, ob irgendjemand mich sah, ob irgendjemand auf mich schoss oder sonst etwas machte.
Später, wenn ich älter sein und ein Leben leben würde, von dem ich an diesem Tag nicht einmal zu träumen gewagt hätte, wenn ich Freunde und eine beste Freundin haben würde, wäre dies ein Teil meiner Geschichte, den ich niemandem erzählen würde.
Nach dem Schuss in unserem Keller, dem Schuss, den ich abgegeben hatte und der mein Leben für immer veränderte, war ich weder ruhig geblieben, noch hatte ich sofort gewusst, was jetzt zu tun war. Ich hatte die Waffe fallen gelassen, hatte auf dem Absatz kehrt gemacht und war weg gerannt, die Treppe hinauf, durch die Küche, über die Veranda und einfach weg von dem Ort, an dem ich gerade meinen Bruder, alles, was mir noch geblieben war, meinen Helden, umgebracht hatte.
Ich wurde erst wieder langsamer, als ich das Ufer des riesigen Sees erreicht hatte und der Kies mich stolpern ließ. Schluchzend ging ich auf die Knie, völlig außer Acht lassend, dass der Boden nass war, vergrub die Hände in den kleinen Steinchen und sackte dann in mich zusammen, rollte mich zu einer Kugel ein und weinte.
So lag ich da, schluchzend, röchelnd, nach Atem ringend, mir darüber im Klaren, dass ich jede Sekunde tot sein könnte, weil einer der Banditen mich fand oder ein Crank des Weges kam. Aber ich bewegte mich nicht, bis auf die kleinen Zuckungen, die die Schluchzer in mir auslösten.
Irgendwann, es musste eine ganze Zeit vergangen sein, auch wenn ich völlig das Zeitgefühl verloren hatte, hörte ich dann wirklich Schritte. Jemand kam auf mich zu, bewegte sich langsam auf dem Kies fort, als versuchte er, sich anzuschleichen.
Meine Überlebensinstinkte setzten in dem Moment wieder ein, in dem ich den Kopf aus und den Körper anschaltete. Ich befand mich in akuter Lebensgefahr, es war mir gar nicht möglich, mich gegen das zu wehren, was ich jetzt tat. Von der einen zur anderen Sekunde erschlaffte mein Körper völlig. Ich hörte auf zu weinen, die Schluchzer blieben aus, keine Bewegung durchzog mehr meine Muskeln. Vollkommen reglos lag ich da.
Die Person, ich glaubte an den Schritten zu erkennen, dass es sich um einen Mann handelte, da ich große Füße hörte, blieb wenige Meter von mir entfernt stehen. Kurz war kein Geräusch zu hören, nicht einmal sein Atem, als er zu sprechen begann. Und was er sagte, ließ mich entsetzt zusammenzucken, gegen jede Logik und jeden Instinkt.
"Francesca?", fragte er.
Ich schreckte hoch, saß innerhalb von Millisekunden aufrecht im nassen Kies, erstarrt zu einer Statue und starrte ihn an. Ich hatte richtig gelegen, er war ein Mann, wobei er diese Bezeichnung noch nicht wirklich verdient hatte. Viel mehr war er ein Junge, nicht viel älter als ich, schlank, beinahe noch schlaksig, mit dunklen, fast schwarzen Haaren, die etwas zu lang geworden waren und überaus definierten Wangenknochen und Kiefer.
Das erste, was ich dachte, war, dass er hübsch war, auch wenn sein Gesicht dreckig und seine Kleidung kaputt waren. Einen Moment konnte ich die Augen nicht von seinen grünen wenden, doch dann schüttelte ich den Kopf und kam wieder zu mir. Ungeschickt kam ich auf die Füße und machte einen Satz von ihm weg, sodass meine Schuhe vom Wasser des Sees umspült wurden.
"Woher kennst du meinen Namen?!" Meine Stimme klang fremd, weit entfernt. Als wäre es nicht die meine.
"Ich kenne das Schild an eurer Tür. Da steht dein Name drauf", erklärte er und hob beschwichtigend die Hände.
"Warum?", fragte ich zitternd und machte noch einen Schritt in den See hinein. "Warum guckst du auf unser Klingelschild? Was machst du vor unserem Haus?"
"Ich... Hier draußen ist es nicht sicher, schon gar nicht am Tag. Wir müssen hier verschwinden", sagte er und blickte sich um.
"Warum bist du dann hier draußen?"
"Ich habe einen Schuss gehört, aus eurem Haus. Deshalb habe ich raus geguckt. Ich hatte Angst, es könnten Banditen gewesen sein, die angegriffen haben. Dann habe ich dich gesehen, wie du weg gerannt bist. Und ich bin dir gefolgt. Ich hab' mir Sorgen gemacht."
Verwirrt schüttelte ich den Kopf. "Was... Warum solltest du dir Sorgen machen? Wir kennen uns doch überhaupt nicht."
"Du bist auch alleine, genauso wie ich. Ich verstehe, wie du dich fühlst."
Seine Worte verwirrten mich immer mehr. "Ich verstehe nicht, was du von mir willst."
"Ich will dir helfen, das ist alles. Meine Eltern sind vor ein paar Jahren von Banditen getötet worden. Ich habe nach meinem Onkel gesucht. Er hat damals im Haus neben euch gewohnt. Als niemand mehr dort war, bin ich geblieben, habe gehofft, dass er wieder kommt. Aber niemand kam. Dann hab' ich dich und deine Mum gesehen, wie er immer wieder auf Vorratssuche gegangen seid. Irgendwann warst du dann nur noch alleine unterwegs. Ich musste daran denken, wie ich mich gefühlt habe, als meine Eltern weg waren. Du hast mir leid getan. Ich wollte schon länger bei dir klopfen, aber ich dachte, du hältst mich dann für einen Psycho, der dich umbringen will. Aber heute konnte ich nicht einfach nur zusehen. Hier draußen ist es gefährlich. Wenn sie dich finden, töten sie dich oder machen schlimmeres mit dir. Also bitte... Lass uns von hier verschwinden." Seine Stimme klang flehend.
Jetzt blickte ich wieder in seine Augen, auf der Suche nach einer Lüge, einer bösen Absicht. Aber ich fand einfach keine. Also tat ich etwas, was ich von mir selbst niemals erwartet hätte.
Ich nickte.
"Okay", sagte ich.
Der Junge wartete nicht lange, er machte auf dem Absatz kehrt und rannte los, geduckt und bedacht, in den Schatten der Nachmittagssonne zu bleiben. Ich folgte ihm im Zickzack, bis wir das Haus des Nachbarn erreicht hatten, mit dem mein Vater damals immer auf Vorratstour gegangen war.
"Hier rein", zischte er, als er eine Klappe aufhielt, die den Zugang durch ein Kellerfenster verdeckte, und sich dabei immer wieder umsah.
Ich zögerte, allerdings nur eine Sekunde lang. Ich war gerade dabei in das dunkle Nichts eines fremden Kellers zu springen, mit einem Jungen, den ich seit wenigen Minuten kannte. In jeglichem Buch, das ich bisher gelesen hatte, waren solcherlei Dinge immer schief gegangen.
Aber ich sprang. Und ich landete, mitten in der Dunkelheit. Denn aus irgendeinem Grund vertraute ich darauf, dass dies hier nicht ausgehen würde wie in einer dieser Geschichten, sondern viel mehr wie in einer mit Happy End, so wie den Zaubererbüchern, die ich am liebsten mochte. Denn dies hier war nicht irgendeine Geschichte.
Es war meine Geschichte.

Behind The WICKED Truth | A Maze Runner NovellaDonde viven las historias. Descúbrelo ahora