Kapitel 38

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[Letzte Worte]

~Es war erst der Anfang~

Casmiel wusste nicht, was mit ihm los war.

Er wusste nicht, wieso er war, wie er eben war und diese Ungewissheit beunruhigte ihn. Wenn man sein ganzes Leben wusste, was man irgendwann einmal machen würde, war es schwer, nicht zu wissen, was man tun musste.

Er hatte normalerweise immer einen Plan, wenigstens eine Ahnung. Wissen war in diesem Spiel Macht und Macht war das Mittel, das ihm zum Sieg verhelfen würde. Doch im Moment schwamm er in Ungewissheit, in einem Fluss, der von seinem Vater gesteuert wurde.

Doch wie konnte er siegen, wenn es nichts gab, das er wirklich gewinnen konnte? Der Krieg war vorbei gewesen, sobald Charon Tripe sich eingeschalten hatte. Der Präsident hatte absolut keine Chance und würde von der geballten Macht nur eines Mannes erschlagen werden.

Schließlich plante Charon das hier schon seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten. Er wusste genau, was er tun musste, welche Fäden gezogen werden sollten und was er zur Verfügung hatte.

Er hatte seine eigene Schwester mit einem Monster verheiratet, nur damit er ständige Informationen über den Präsidenten hatte. Er hatte die Unterwelt in seiner Hand, den Markt und die Regierung. Charon Tripe beherrschte Amerika schon längst, doch bisher hatte es keinen Grund gegeben, die Puppen auszutauschen, die er führte.

Casmiel war kein Idiot. Er wusste, das er eine Gefahr für seinen Vater darstellte und er wusste das er mit Absicht immer und immer wieder zerstört worden war, nur damit er seinem Vater bedingungslos gehorchte.

Er wusste, dass er ihm im Weg gestanden war, als er noch den Widerstand geführt hatte und Casmiel wusste ebenso von Charons Plan, ohne das er ihn mit seinem Sohn geteilt hatte. Aber seit dem ersten Moment an dem Casmiel in seiner Nähe war, hatten sich seine alten Instinkte eingesetzt und er hatte jedes einzelne Wort, jede Bewegung, jedes noch so kleine Zeichen analysiert und mit diesen alles zusammengesetzt. Es war klar vor seinen Augen, doch er konnte nur dabei zusehen, wie Charon gewinnen würde.

Selbst wenn er eine Chance hatte, selbst wenn er Charons Pläne kannte, würde er nicht erneut eingreifen und alles zerstören. Er würde gehorchen und seinen Vater Stolz machen. Er würde seine Schuld begleichen und endlich frei sein.

Er würde diese Fäden endlich trennen, selbst wenn es bedeutete, der Bösewicht der Geschichte zu werden.

Vielleicht könnte er dann auch endlich glücklich werden, ohne die ganze Zeit die Worte seines Vaters in seinem Hinterkopf zu hören. Vielleicht war er dann endlich Theseus' Liebe wert.

Deshalb stand er wohl hier, vor Eirenes Grab. Weit entfernt von der Stadt und den Vorbereitungen auf den Ball, der abends stattfinden würde. Diese verdammte Woche war viel zu schnell vergangen. Aspen musste sich wappnen und würde ihr Schicksal am heutigen Tage kennenlernen.

Casmiel wusste bereits, wie sie reagieren würde und wünschte sich, es ändern zu können. Doch er durfte die Pläne seines Vaters nicht durchkreuzen, selbst wenn es bedeutete, dass er Aspen zerstören musste.

Er kniete sich vor das Grab hin und legte eine Hand auf den kalten Stein.

„Es tut mir leid, Eirene. So, so leid. Ich wünschte...ich wünschte ich könnte so vieles ungeschehen machen. Doch, genauso wie dein Name, ist die Zukunft in Stein gemeißelt und ich muss ihren Linien folgen. Ich hoffe du kannst mir verzeihen" wisperte er leise, keine Träne rann über seine Wangen, obwohl seine Stimme verdächtig zitterte. Er konnte nicht mehr weinen. Seine Augen waren ausgetrocknet und seine Emotionen hinter einer hohen Mauer verschlossen, die Eirene eingerissen hatte. Doch jetzt war sie verschwunden und mit ihr auch Casmiels Freiheit.

„Es tut mir so leid" sagte er noch einmal, bevor er seine Hand von ihrem Grabstein entfernte, sich langsam aufrichtete und einen letzten Blick auf die Inschrift auf dem Stein warf.

Eirene Helenko. Die einzige Frau, die er geliebt hatte.

Natürlich hatte er Dolores geliebt, doch er war damals gerade einmal ein Teenager gewesen. Nichts weiter als ein naiver Junge, der gedacht hatte, sein Vater würde seine Freundschaft und Beziehung mit einer einfachen Geigenbauerin gut heißen. Er hatte gedacht, er könnte einmal in seinem Leben etwas mit seinem Vater teilen, das nicht vor seinen Augen zu Staub zerfallen würde.

Oh, wie falsch er doch gewesen war. Charon hatte nicht einmal gezögert, als er Dolores erschossen hatte. Er hatte nicht gezögert ein Kind zu töten, das seinen ‚perfekten' Sohn mit ihrer Normalität und Zuneigung vergiftet hatte.

Das war der Tag gewesen, an dem Casmiel realisiert hatte, das sein Vater ihn niemals so sehr lieben würde, wie er ihn liebte. Er hatte realisiert, dass er nur ein Werkzeug war und jederzeit ersetzt werden könnte, sollte er Rost aufweisen oder nur eine einzige Fehlfunktion aufzeigen.

An diesem Tag hatte Casmiel seinen wahren Wert erkannt und ihn akzeptiert.

Wenn man seine ganze Kindheit damit verbracht hatte herauszufinden, was Liebe war und versucht hatte, sie von den Menschen zu erlangen, die dich sowieso bedingungslos lieben sollten, dann war es nicht wirklich schwer irgendwann aufzugeben. Es war nicht schwer zu erkennen, das Liebe etwas war, das man nicht verdient hatte.

Doch es war schwer Liebe zu akzeptieren. Es war schwer zu sehen, dass andere tatsächlich in der Lage waren, einen zu lieben, obwohl er ein abstoßendes Lebewesen war.

Deshalb hatte Casmiel es nicht verstanden. Er hatte nicht verstanden, wie Theseus in der Lage sein konnte, ihn so liebevoll anzusehen. Wie er es schaffte, so sanfte Berührungen auf seiner Haut zu hinterlassen und wie er es schaffte ihn anzulächeln, ohne eine Maske dabei zu tragen.

Er verstand nicht, wie irgendjemand in der Lage war, ihm Liebe zu schenken, wenn er sein ganzes Leben damit verbracht hatte, sie von irgendjemanden zu bekommen.

Und doch hatte er beim Widerstand eine Familie gefunden, die er liebte.

Er lächelte leicht und neigte leicht den Kopf, um seinen Respekt zu zeigen, bevor er sich umdrehte und die Hände in die Taschen seines Mantels steckte.

Er hatte ihn vermisst. Den weichen Stoff, der nun nicht mehr nach Dreck und Blut roch, sondern frisch gewaschen und wieder rein war. Er hatte jede noch so kleine Faser vermisst, die ihn schon so lange begleiteten. Fast fünfzehn Jahre schon.

Sein dunkelblauer Mantel, der im Wind wehte und seine Silhouette zu einem Spiel aus Schatten und Licht verwandelte.

Sein dunkelblauer Mantel, den er nie wieder tragen wollte, er sich aber dennoch wieder übergestrichen hatte.

Sein dunkelblauer Mantel, der zeigte, das es nicht das Ende war. Es war erst der Anfang. 

|•Fallen Angel•|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt