62 - Taubheit

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Stumm aß Alea den Fisch. Es schmeckte nach nichts, genauso wie Tess' Tee, der Salat oder die Paprika. Alles fühlte sich leer an, sie hatte das Gefühl, nichts mehr spüren zu können. Die Gespräche der anderen drangen nur als Rauschen zu ihr durch, Wörter, die sie hörte, aber nicht verstehen konnte. Ihre Augen waren trocken und rot geschwollen vom vielen Weinen. Gerne hätte sie weiter geweint, bis in alle Ewigkeit, doch ihr Körper hatte keine Tränen mehr übrig. Sie wollte unbedingt weinen und alles um sich herum vergessen, doch sie konnte es nicht mehr. Und um ehrlich zu sein, war diese Frustration schlimmer als alles andere.

Sie schnappte ein paar Gesprächsschnipsel auf und schloss daraus, dass Ben gerade von seinem Gespräch mit der Frau vom Jugendamt berichtete. Anscheinend hatte er ihr gesagt, dass Alea gerade auf dem Weg zu ihren leiblichen Eltern war und frech gemeint, dass sie schon einmal die Papiere zur Übertragung des Sorgerechts auftreiben sollten, anstatt irgendeine beliebige Pflegefamilie herauszusuchen, der sie Alea aufzwingen wollten. Er erwähnte ebenfalls den Termin zu Mariannes Beerdigung, der allerdings schon so früh war, dass sie es mit der Crucis niemals rechtzeitig geschafft hätten. Das würde bedeuten, sie müsste sich dem Jugendamt „ausliefern", wenn sie sich von ihrer Pflegemutter verabschieden wollte. Aber das stand außer Frage. So oder so würde Orion sie dort erwarten und sofort nach Island verschleppen.
Alea stand auf und ging zurück in ihre Kajüte. Ihr war der Appetit vergangen, vorausgesetzt, sie hätte je welchen gehabt.

Den Rest des Tages verbrachte Alea in ihrer Koje. Sie verlor jegliches Zeitgefühl, ob Stunden oder Sekunden verstrichen, war ganz gleich. Irgendwann musste sie jedoch eingeschlafen sein, denn als sie das Bewusstsein erlangte, war es stockfinster. Im ersten Moment schwelgte sie in dem wohligen Nebel des Halbschlafs, bis sie die Erinnerungen an das Geschehene zurückerlangte und alle zermarternden Gefühle wieder in ihr aufkeimten.

Ganz gleich, wie laut sie dabei war, ging sie nach draußen. Die kühle Nachtluft stieg ihr entgegen, der Wind zerzauste ihr das Haar. Es war eisig kalt, so viel kälter als in der vorigen Nacht, doch die Kälte drang nicht durch den Schleier ihrer Gefühle hindurch, und so war es ihr gleich.

Durch den starken Wind hindurch kämpfte sie sich zu ihrer altbekannten Stelle am Bug. Eigenartigerweise war die Watte, die sie von den Geräuschen der Umgebung abgeschirmt hatte, mit dem Schlaf verschwunden. Stattdessen war jetzt alles unerträglich laut. Das Reißen der Segel an den Stricken, das Preschen der Wellen am Holz, den grausigen Wind, der an ihren Kleidern zerrte. Auf eine merkwürdige Weise löste diese Qual an Geräuschen ein Gefühl der Genugtuung in ihr aus. Als würde der äußerliche Schmerz den inneren betäuben, so wie dieser innere Schmerz ihren Körper einst betäubt hatte.

Als sie sich an den Bug stellen wollte, bemerkte sie, dass dort schon jemand stand. Es war Tess. Überrascht, einander um diese Uhrzeit zu sehen, blickten sie sich an. Alea wollte schon fast wieder umdrehen, doch Tess machte Platz für sie. Wortlos stützte sich Alea auf die Reling und blickte in die Tiefenschwärze. Es war bewölkt, und so war alles außer dem schwachen Glänzen des Restlichts auf den Wellen stockfinster.

„Was tust du um diese Uhrzeit hier?", durchbrach Tess ihr Schweigen. „Es ist gerade mal ein Uhr morgens."

So früh erst? Doch Alea wusste nicht, ob es sie ernsthaft kümmerte. Es war eher Tess' Stimme, die sie ärgerte; sie hatte doch allein sein wollen! Allein in ihrem Ozean der Trauer ertrinken wollen.

„Ich dachte... du wärest bei uns die Tagaktive", meinte Alea stockend. Ihre Stimme war brüchig, vom Weinen heiser. Jetzt erst bemerkte sie ihren schrecklichen Durst.

„Das war ich auch" Tess blickte sie nun an, Alea brannte unter ihrem Blick. „Aber da ich vermutete, dass du heute die ganze Zeit in unserer Kajüte bleiben würdest, dachte ich mir, ich lasse dir den Platz, den du brauchst und bleibe oben an Deck. Ich war sowieso nicht müde." Endlich wandte sie ihren Blick ab. „Ich kann auch gehen, wenn du magst", schlug sie dann vor, auch wenn man an ihrer Stimme hören konnte, dass sie dies nur ungern tun würde.

„Wer hat gerade Wache?", stellte Alea eine Gegenfrage.

„Tiara, so wie gestern", antwortete Tess sichtlich verwirrt über den abrupten Themenwechsel. „Aber ich löse sie gleich ab, sie geht schlafen und Sammy kommt hoch als Unterstützung."

Alea seufzte, was sich aber durch ihre trockene Kehle schnell in ein Husten verwandelte.

„Bitte geh nicht", bat sie. „Bevor ich mich noch mit Tiara streite. Ich weiß nicht, ob ich ihre bissigen Kommentare gerade ertragen kann." Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Tess die Hände in die Reling krampfte, als wäre sie viel zu überfordert mit der Situation. Doch kurz darauf traten wieder Tränen in Aleas Augen und ihre Sicht verschwamm. Sie starrte halb wütend, halb traurig in den dunklen Ozean hinein, wünschte sich so sehr, hineinspringen zu können und nie wieder aufzutauchen.

„Du siehst echt so aus, als könntest du eine Umarmung vertragen", meinte Tess auf einmal. Das sagte ausgerechnet sie, die Zweitbeste, wenn es um den Anti-Knuddeltyp ging? Doch bevor Alea sich weiter wundern konnte, fühlte sie schon, wie Tess sie in ihre Arme zog. Erst war sie überrumpelt von der plötzlichen Nähe, aber dann ließ sie sich gehen und erwiderte die Umarmung. Sie vergrub ihr Gesicht in Tess' Schulter und weinte leise Tränen.

Alea Aquarius - Die Magie der SchwesternWhere stories live. Discover now