63 - Besserung

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Sie hätte es wohl niemals gedacht, aber mit der Zeit wurde es besser. Tess hatte sie ins Bett gebracht und als sie am nächsten Morgen aufwachte, hatte sie nicht sofort das Bedürfnis, ungehalten zu weinen. Da war immer noch diese undefinierbare Leere in ihr, und das trockene und ziehende Gefühl ihrer Augen nach den vielen Stunden des Weinens, doch etwas in ihr hatte sich seit dem letzten Abend geändert. Als sie an Deck trat, kam ihr die Sonne so hell vor, der Wind so deutlich, das Wasser so schön. Es war, als würde sie die Welt in einem ganz anderen Licht sehen, so als würde sie erst jetzt erst ihre Schönheit erkennen, die einzelnen Details, die vorher verschleiert waren.

Trotzdem war ihr noch nicht nach Gesellschaft zumute. Also wehrte sie Lennox und Sammy ab, die beide versuchten, mit ihr zu reden. Sie genoss die Ruhe, die sie allein hatte. Die Zeit, in der sie das Meer allein genießen konnte.

„Du hast heute wohl gut geschlafen", bemerkte Tess, die sich wie letzte Nacht neben sie an die Reling stellte. Eigentlich hätte Alea sie wegschicken müssen, wie auch die anderen. Doch in der letzten Nacht war es auch anders gewesen. Die letzte Nacht hatte ihre Bindung auf eigenartige Weise geändert; Alea wusste nicht, warum oder wie es geschehen war.

Alea lächelte. „Ja, das habe ich wohl." Sie blickte besonnen aufs Meer.

„Danke nochmal für gestern", bedankte sie sich dann.

„Kein Problem", beschwichtigte Tess nur. „Dafür sind Freunde doch da." Sie lächelte schief.

„Wollen wir vielleicht Frühstück machen?", fragte Alea. „Ich glaube, das bringt mich wieder in Schwung und auf andere Gedanken. In meinem Kopf kreist immer nur dasselbe..."

„Klar!" Tess stieß sich ab und nahm Alea bei der Hand. Zusammen gingen sie nach unten.

Heute hatte Alea nicht viel Lust auf Pfannkuchen, also machten sie nur einige Sandwiches, einige vegetarisch und einige wenige mit Schinken. Die Cru hatte schon länger vor, sich stückchenweise mehr vegan zu ernähren, da das einfach viel besser für die Umwelt war. Und für die Tiere natürlich auch. Aber Sammy war noch in der Entwicklung und Tiara war mit relativ viel Fleisch aufgewachsen, also konnten sie nicht vollständig fleischlos leben.

Ben war es anzusehen, wie froh er über Aleas heitere Stimmung war.

„Wir kommen wahrscheinlich am späten Nachmittag in Venedig an", verkündete er beim Frühstück. Alea wurde bei seinen Worten ganz aufgeregt. Sie machten Pläne, wie sie wohl den Umhang am besten finden konnten. Venedig war eine große Stadt mit unzähligen Einwohnern und noch mehr Touristen. Da einen einzelnen Händler zu finden, noch dazu ohne jegliche Adresse, war alles andere als einfach.

„Aber die Legende sagt doch, der Umhang findet zu der Elvarion", wiederholte sich Sammy schon zum gefühlt tausendsten Mal. „Da brauchen wir gar keine Pläne zu schmieden, wir können einfach nach Venedig gehen und Spaß haben. Diesen Luigi finden wir einfach in irgendeinem Eisladen." Er schien sich seiner Sache sehr sicher zu sein. Unbekümmert legte er eine Tafel Schokolade zwischen die Käsescheiben seines Sandwiches und biss herzhaft hinein. Die angewiderten Beschwerden von Tiara ignorierte er herzlich.

„Wenn wir bald in Venedig sind, müssen wir doch sicher auftreten", versuchte Tess, ihr Gespräch von neulich wieder aufzugreifen. „Das heißt, wir können heute eine Bandprobe machen."

Ben seufzte wieder einmal. „Na gut. Hier in der Gegend wird es sowieso bald sehr viel lauter, wenn wir erst einmal in die belebten Küstenregionen kommen. Da kann uns Orion hoffentlich nicht so gut abhören."

Tess jubelte im Stillen und auch Alea war froh, ein Stück ihrer alten Normalität wiedererlangen zu können.

„Was kannst du eigentlich?", wollte Sammy wissen und blickte Tiara an. „Jeder hier muss etwas zum Gemeinwohl beitragen."

„Ist mein großes Taschengeld nicht genug?", fragte diese halb scherzhaft.

„Ich kann zwar Klavier spielen", meinte sie dann ernsthaft, „aber das nützt mir hier ohne Keyboard wenig. Im Singen bin ich wohl durchschnittlich." Sie zuckte mit den Schultern und biss in ihr Schinkensandwich. „Und darauf habe ich ehrlich nicht so viel Bock."

Und dabei blieb es. Tiara klinkte sich komplett aus dem ganzen Band-Projekt aus und verbrachte den Rest des Tages Musikhörend auf der ausklappbaren Liege, wo sie die wohl letzten Sonnenstrahlen des Jahres genoss. Währenddessen ging der Rest der Cru ihre Lieder durch – behielt auch diesmal das ursprüngliche Repertoire bei – und erprobte hin und wieder einen eigenen Song. Dann machten sie kleine Abänderungen, sodass auch zwei oder drei von ihnen ein Lied so spielen konnte, dass es ohne die restlichen Bandmitglieder gut klang.
Alea engagierte sich dabei mit bittersüßer Euphorie. Das Gefühl der Verbundenheit zu den anderen war stark, aber genauso ziehend war das dringende Verlangen nach Isolation. Der Tod von Marianne hatte die alte Alea in ihrem Herzen allein gelassen, und pochte nun aus Einsamkeit. Sie versuchte, die neue Alea zu alten Bewältigungsmechanismen zurückzudrängen, was Isolation, endlose Grübeleien und das Sitzen an einem Hamburger Kai bedeutete. Aber nicht alles davon konnte sich hier, auf einem viel zu vollen Schiff irgendwo in Ostitalien, entfalten. Und Alea war auch ziemlich froh darüber.

Um fünfzehn Uhr winkte ihr derzeitiger Steuermann Sammy sie her, und präsentierte ihnen die Küste, die sich vor ihnen eröffnete. Sie befuhren nun die Küstengegend direkt um Venedig herum, was bedeutete, dass es schon bald sehr viel voller wurde. Mehrere Yachten und ein kleines Kreuzfahrtschiff waren in alle Himmelsrichtungen verstreut zu sehen. Daher übernahm Ben nun das Steuer, da er selbst kontrollieren wollte, dass sie auch keinem Schiff zu nahekamen. Im Moment näherten sie sich der Inselgruppe von Süden, und würden wohl eine ruhige Bucht suchen, in der sie die Crucis sicher zurücklassen konnten. Es stand außer Frage, dass sie in den Hafen von Venedig fahren würden. Viel zu viele Touristen und auch Orions Leute könnten dort sein. Das konnten sie nicht riskieren.

Die Alpha Cru stellte sich an den Bug und reckte ihre Köpfe in die Luft. Ein schmerzhaftes Gefühl der Nostalgie überkam Alea. Land war in Sicht, das kannten sie schon. Doch anders als die anderen wusste sie nicht mehr, wie sich das ohne die stetige Angst vor Hubschraubern und Tauchern anfühlte.

Lennox legte seinen Arm um ihre Schulter und zog sie sachte an sich.

„Silberumhang auf zwölf Uhr!", rief er scherzhaft und lächelte Alea an. Sie erwiderte das Lächeln schwach. Wie gern sie immer mit Marianne verreisen wollte! Leider war es dafür nun zu spät.
Alea schüttelte den Kopf, als wolle sie damit die dunklen Gefühle loswerden wie ein Hund das Wasser in seinem Fell. Sie wollte jetzt nicht mehr traurig sein, sie wollte nach vorne schauen!

Alea Aquarius - Die Magie der SchwesternDove le storie prendono vita. Scoprilo ora