7) Der Capitaine

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Auf meinem Weg zurück zur Loge habe ich mit meinen Gefühlen zu kämpfen. Fast möchte ich umdrehen und Étienne sagen, dass ich es mir anders überlegt habe. Ich kann das Geld gebrauchen und ich sehne mich nach angenehmer männlicher Gesellschaft, selbst wenn ich mir dieses Verlangen nur selten eingestehe. Étienne Romarin – attraktiv, alleinerziehend und humorvoll – ist seit langer Zeit der erste Mann, der etwas in mir auslöst. Noch weiß ich nicht genau, was dieses Etwas ist, aber ich hätte gerne die Zeit, um es herauszufinden. Gleichzeitig muss ich an meine Sicherheit denken. Étienne hat viele komische Fragen gestellt und je länger ich über unsere Unterhaltung nachdenke, desto sicherer bin ich mir, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Trotzdem bedauere ich es sehr, nicht einfach mit ihm durchbrennen zu können. Alles wäre besser, als mich mit Narcisse und seinen Elfen befassen zu müssen.

Zurück in der Loge werde ich schon erwartet. Doch Narcisse ist nicht alleine. Bei ihm ist ein Mann in einer schwarzen Galauniform mit silbernem Zierrat.

Als er sich zu mir umdreht, bemerke ich den imposanten Löwenkopf, der seine linke Brustseite schmückt. Direkt über dem Herzen. Dann erst fällt mein Blick auf sein Gesicht, das weniger bemerkenswert ist. Das einzig Auffällige daran ist seine Unauffälligkeit. Ein Gesicht wie Millionen andere. Hätte man mich gebeten, es zu beschreiben, hätte ich wohl nur sagen können, dass es aus Augen, Mund und Nase besteht. Mit der Zeit üben seine Augen jedoch eine seltsame Faszination auf mich aus. Sie liegen halb unter tiefhängenden Lidern verborgen, sind von einem kalten Braunton und einer messerscharfen Intensität. Als könnte er mit einem einzigen Blick durch alle Schichten meiner Persönlichkeitszwiebel schneiden.

Persönlichkeitszwiebel, denke ich. Das Wort sollte ich mir vermutlich patentieren lassen.

»Ah, Mademoiselle Pommier«, sagt Narcisse. »Darf ich Ihnen Capitaine Julien Faucon vorstellen?«

Ich zwinge mich zu einem Lächeln. »Guten Abend, Capitaine.«

Der Capitaine deutet eine Verneigung an. »Mademoiselle Pommier.«

»Mademoiselle Pommier unterstützt mich bei meiner Arbeit«, ergänzt Narcisse.

Ich nicke zustimmend. Die meisten Menschen wollen nicht, dass herauskommt, was ich wirklich mache.

»Capitaine Faucon arbeitet für das Corps«, erklärt Narcisse. Leise seufzend fügt er hinzu: »Er soll mich vor den Contres beschützen.«

»Den Contres?«

»Eine elfen- und regierungsfeindliche Bürgerbewegung«, antwortet der Capitaine. Er hat eine ungewöhnlich tiefe, raspelnde Stimme, die nicht recht zu seinem glattgeschliffenen Äußeren passt.

Narcisse schnaubt verächtlich. »Sie wollen verhindern, dass ich vor dem Senat spreche. Aber ihre Todesdrohungen können mich nicht aufhalten.«

»Todesdrohungen?«, wiederhole ich verblüfft. Vielleicht bin ich naiv, aber ich habe nicht gedacht, dass die Lage so ernst sein könnte. Obwohl ich Narcisse' Friedenspläne für falsch und verwerflich halte, wäre ich nie auf die Idee gekommen, ihm Gewalt anzutun. Schon allein, weil ich mir nicht einbilde, dass die Friedensidee mit ihm sterben würde.

»Ach ...« Narcisse macht eine wegwerfende Handbewegung. »Nur ein paar Verrückte. Kein Grund zur Beunruhigung.«

»Mit Verlaub, Monsieur Narcisse, aber das sehe ich anders«, sagt der Capitaine, faltet die Hände auf dem Rücken und wippt ungeduldig in den Knien. Bestimmt hat er noch was Besseres zu tun als hier herumzustehen und den Leibwächter für einen uneinsichtigen Friedensaktivisten zu spielen. »Sie haben sich mit Ihren Thesen eine Menge Feinde gemacht. Und einige davon sind durchaus sehr ernst zu nehmen.«

»Ich gebe nichts auf die Drohungen von Fanatikern«, brummt Narcisse.

»Dann könnten Sie sehr schnell mit einem Loch im Kopf oder einem Dolch zwischen den Rippen enden.«

Narcisse lacht höhnisch. »Ich bin mehr als bereit, für meine Überzeugungen zu sterben.«

Ja, aber ich nicht, denke ich. Zumal Narcisse' Überzeugungen förmlich das genaue Gegenteil meiner eigenen Überzeugungen sind – mal von dem Umstand abgesehen, dass wir beide nach Frieden streben. Doch wenn ich mich mit Narcisse in der Öffentlichkeit sehen lasse, muss es für Außenstehende so wirken, als würde ich seine politischen Ansichten teilen. Plötzlich komme ich mir wie auf dem Präsentierteller vor. Wie sehen die Fanatiker aus, die meinem Auftraggeber nach dem Leben trachten? Tragen Sie die Haare hüftlang und schmücken sich mit eisernen Kreuzen, wie die verblendeten Idioten, die eine strenge gesellschaftliche Trennung von Ragonen und Joumin durchsetzen wollen? Oder sind es ganz normale Menschen, vielleicht sogar aus höheren Gesellschaftskreisen? »Und wie wollen Sie verhindern, dass Monsieur Narcisse hinterrücks abgestochen wird?«, erkundige ich mich beim Capitaine.

»Meine Männer und ich haben Monsieur Narcisse rund um die Uhr im Blick.« Der Capitaine mustert mich von oben herab. Dabei senkt er nicht das Kinn, wie es ein höflicher Mensch tun würde, sondern trägt den Kopf hoch, wodurch ich mir noch kleiner und unbedeutender vorkomme. Als wäre ich nur etwas Schmutz unter seiner Schuhsohle. Seine dunkle Stimme wird gefährlich leise. »Welche Funktion haben Sie nochmal, Mademoiselle Pommier?«

»Ich wüsste nicht, was Sie das angeht, Capitaine«, schnappt Narcisse, bevor ich antworten und mich um Kopf und Kragen reden kann. »Und ich würde es begrüßen, wenn Sie sich aus meinen privaten Angelegenheiten heraushalten würden.« Er wendet sich an mich: »Kommen Sie, setzen wir uns. Es sollte gleich weitergehen.«

Ich dränge mich am Capitaine (der keinen Schritt zurückweicht) vorbei zu meinem Polstersessel und nehme darin Platz. Meine Knie zittern. Der Capitaine wirkt wie jemand, mit dem nicht zu spaßen ist. Und ich mag mir gar nicht vorstellen, was passieren wird, wenn er Nachforschungen zu meiner Person anstellt. Dann würde er nämlich irgendwann herausfinden, dass es mich eigentlich gar nicht gibt. Nach den Vorfällen in meiner Heimat war ich dazu gezwungen, meinen Nachnamen zu ändern und unter einer Scheinidentität zu reisen. Und ich denke, es wäre wirklich besser, wenn niemand erführe, in was ich damals verwickelt war. Andernfalls könnte ich wohl alles verlieren, was mir wichtig ist – inklusive meines Lebens.

Vorsichtig beuge ich mich vor und werfe einen Blick in den Zuschauerraum, der sich schon wieder ordentlich gefüllt hat. Étienne und seine Begleiterin haben ihre Plätze im Zentrum des Saals eingenommen. Von hier oben sehe ich nur ihre Köpfe und einen Teil ihrer Schulterpartien. Doch dann – als könnte er meine Aufmerksamkeit spüren – legt Étienne den Kopf in den Nacken und sieht zu mir hoch. Er lächelt und zwinkert mir zu. Entweder er ist wirklich gut darin, Zurückweisungen einzustecken, oder er hat noch nicht aufgegeben. Wie auch immer, mit dem Capitaine im Nacken fühle ich mich angreifbar und schutzlos. Aus Erfahrung weiß ich, dass ich in einem derart anfälligen Zustand dumme Entscheidungen treffe. Deshalb erwidere ich sein Lächeln nur knapp und lasse mich wieder zurücksinken.

Kurz darauf wird es dunkel und der Vorhang hebt sich zum zweiten und finalen Akt.

DrudenkussWo Geschichten leben. Entdecke jetzt