51) Die alten Könige

86 24 3
                                    

Die alte Königsburg liegt auf einer bewaldeten Anhöhe im Norden von Tournesol. Ihre kantigen Konturen heben sich im frühen Morgenlicht deutlich gegen die unregelmäßigen Formen der Baumwipfel ab.

Étienne erklärt mir, dass normalerweise viele Besucher auf die Insel kämen, um das Wahrzeichen der Stadt zu besichtigen, doch derzeit wäre das Innere der Burg für den Publikumsverkehr gesperrt.

Da keine Straßen zur Burg hinaufführen, parkt Adeline in einer der kleinen Gassen am Fuß des Hügels und fordert uns dazu auf, uns in einer nahegelegenen Bäckerei etwas zu essen zu kaufen. Keiner von uns ist hungrig, aber wir befolgen ihre Anweisung, ohne uns zu beschweren.

Als wir zurückkehren, wartet Adeline bereits auf uns. Sie drückt jedem von uns einen kleinen Zettel in die Hand und weist uns an, uns die darauf befindliche Adresse gut einzuprägen und den Zettel anschließend zu vernichten.

»Wozu?«, frage ich.

»Macht es einfach«, erwidert Adeline und wir befolgen auch diese Anweisung, ohne weitere Diskussionen.

Die Adresse auf meinem Zettel ist mir nicht bekannt. Ich könnte nicht einmal sagen, ob sie sich auf Menthe befindet. Trotzdem lese ich sie ein paar Mal, wiederhole sie erst laut, dann in Gedanken und zerrupfe den Zettel anschließend in kleine Fetzen. Étienne neben mir schlingt ihn einfach herunter, als würde es sich um eine Papierbeilage zu seinem Puddingkuchen handeln.

»Gut«, sagt Adeline, stemmt die Hände in die Taille und mustert uns der Reihe nach, als wären wir ihre neuen Rekruten. »Gehen wir.«

»Sollten wir uns nicht bewaffnen?«, wage ich den erneuten Versuch, an ein paar Erklärungen zu kommen.

»Wir wollen Momos Entführer doch keinen Grund geben, Momo zu töten, oder?« Adeline geht voraus, die Straße hinunter, in Richtung der Bäume. Dabei zupft sie ihre Handschuhe zurecht. »Außerdem brauche ich keine Waffe.«

Damit hat sie vermutlich Recht und ich bin auch wirklich keine Waffennärrin, aber ich glaube, dass ich mich deutlich wohler fühlen würde, wenn ich etwas hätte, mit dem ich mich verteidigen könnte. Meine Drudengestalt mag beeindruckend und mein Verwandlungstalent nützlich sein, aber eine wirkliche Gefahr bin ich dadurch nicht. Étienne hat es da schon leichter und Isabel weiß sich bestimmt auch zu helfen. Bleiben nur Mae und ich.

Ich werfe der jungen Joumin einen verstohlenen Blick zu.

Maes Miene ist geistesabwesend und sie knetet nervös ihre Finger. Inzwischen habe ich verstanden, dass sie es hasst, ihre gewohnte Umgebung zu verlassen und unter Menschen zu gehen. Vermutlich aus Angst, einen fluchbedingten Anfall zu erleiden. Noch habe ich es nicht selbst miterlebt, aber aus ihrem Verhalten und dem ihrer Freunde schließe ich, dass ihr Fluch verheerende Konsequenzen mit sich bringen kann.

Der Wald ist nicht besonders dicht. Kein Vergleich zu den undurchdringlichen, dunklen Wäldern in Canarde, wo ich herkomme. Dennoch bleiben die Geräusche und Gerüche der Stadt schon nach wenigen Schritten hinter uns zurück und eine ungewohnte Ruhe kehrt ein. Das Sonnenlicht bricht in weichen Strahlenbücheln durch das Blätterdach und überzieht den Waldboden mit einem goldenen Mosaik. Vögel zwitschern und das Herbstlaub knistert unter unseren Schuhen. Die Wege sind ausgetreten und überall finden sich Spuren menschlicher Besucher.

Wäre Narcisse noch am Leben und mein Besuch auf Menthe so verlaufen wie ursprünglich geplant, wäre ich wohl auch hergekommen, um mir die Burg anzusehen. Ich wäre den Hügel hinaufgewandert und hätte die reichhaltige Fauna und Flora der Insel bestaunt. Vielleicht hätte ich darauf gehofft, einen Obsidianfalter zu entdecken. Diese Schmetterlinge sind nur auf Menthe zu finden und gelten als ausgesprochen selten. Deshalb ziehen sie auch jedes Jahr unzählige fanatische Schmetterlingssucher auf die Insel. Das habe ich im Radio gehört.

DrudenkussWhere stories live. Discover now