9) Spaziergang ins Unglück

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Während ich durch den Regen marschiere, mich unter Vordächern entlangschlängele und Pfützen ausweiche, gehe ich in Gedanken nochmal alles durch, was ich über meinen Auftraggeber und seine politische Situation weiß.

Narcisse setzt sich für einen Frieden zwischen Menschen und Elfen ein, womit er den Zorn einer elfenfeindlichen Gruppierung namens Contres auf sich gezogen hat. Dass er so kurz vor der Troisan vor dem Senat sprechen darf, trägt vermutlich nicht zur Entspannung der Situation bei. Auch wenn ich von Politik nichts verstehe, ist mir klar, dass seine Einladung vor das Ostragoner Oberhaus einen außenpolitischen Richtungswechsel einleiten könnte. Da ich sicher nicht die Einzige bin, die damit ein Problem hat, erhält Narcisse vermutlich täglich eine ganze Wagenladung an Todesdrohungen. Kein Wunder, dass er nicht gut schlafen kann. Letztendlich ist er aber nur der Kopf einer ganzen Bewegung. Damit werde ich mich abfinden müssen, auch wenn mir der Gedanke an einen Frieden mit den Elfen eiskalt unter die Haut kriecht.

Fröstelnd wandere ich durch die steil ansteigenden Gassen des Perlen-Viertels. Hier besitzen die Häuser hübsche bunte Keramikfronten. Ich habe mal gelesen, dass bunte Fassaden früher verpönt gewesen sind. Damals bevorzugte die Ostragoner Oberschicht Fassaden aus weißem Stein als Sinnbild von Reinheit und Macht. Doch dann machte ein berühmter Joumin-Entdecker mit dem Namen Yarin Sha einen folgenschweren Fund: leuchtend bunte Tempelbauten aus dem frühellyrischen Zeitalter. Seitdem sind farbenfrohe Fassaden wieder heiß begehrt. Frei nach dem Motto: Wenn es für die alten Götter gut genug gewesen ist, dann muss es auch für die größten Geldsäcke des Landes gut genug sein.

Leider kann ich die Farbenpracht nicht richtig genießen. Im Dunkeln ist alles grau. Nur manchmal, in der Nähe der leise rauschenden Gaslaternen, kann ich erahnen, wie abwechslungsreich dieses Viertel bei Tag aussehen muss. Dann schimmern korallenrote, goldgelbe, kobaltblaue, blattgrüne und purpurfarbene Keramikkacheln durch den Grauschleier.

Doch es sind nicht nur die Fassaden, die sich hier oben sehen lassen können. Auch die Häuser selbst sind beeindruckend. Mehrstöckige Prachtbauten mit Blendsäulen, Gesimsen, Erkern und Dachgauben. Ganz ähnlich wie in den großen Städten auf dem Festland. Vermutlich gehören sie sogar denselben Bewohnern. Als Sommerhäuschen, um sich vom Trubel in der Hauptstadt zu entspannen.

Nach einer Weile fällt mir außer dem Prunk und Protz noch eine andere architektonische Besonderheit auf. Fast alle Häuser sind mit Schutzsymbolen verziert. Zumeist befinden sie sich über der Haustür, aber manchmal auch über den Fenstern. Vor allem über den Fenstern der Kinderzimmer. Obwohl Elfenflüche offiziell nicht existieren, gehört es zum guten Ton, sich so gut es geht davor zu schützen. Das Problem dabei ist, dass einige dieser Zeichen tatsächlich wirken. Ob sie einen Fluch verhindern können, weiß ich nicht, aber sie interferieren auf unangenehme Weise mit meinen Fähigkeiten. Hin und wieder halten sie mich sogar davon ab, ein Gebäude zu betreten. Woran das genau liegt, kann ich nicht sagen. Vielleicht am Zustand des Zeichens oder an der Person, die es gemalt, beziehungsweise gemeißelt hat. Ich hoffe, bei Narcisse gibt es keine derartigen Schutzmaßnahmen, sonst darf ich mir was einfallen lassen.

Als ich die Malvenallee erreiche und nach Narcisse' Anwesen Ausschau halte, fällt mir noch was anderes ein. Der Capitaine sagte, er und seine Männer hätten Narcisse rund um die Uhr im Blick. Wenn das stimmt, steht sein Anwesen vermutlich unter Beobachtung des Corps. Und das dürfte es mir schwer machen, dort einzudringen, um ihn zu drücken.

Langsam schlendere ich die Straße hinunter, halte mich im Schatten der Linden und versuche, mich aufmerksam umzusehen, ohne dabei verdächtig zu wirken. Um diese Uhrzeit sind nicht mehr viele Fußgänger unterwegs. Ab und zu rauscht eine Voiturette oder eine Droschke vorbei. Dann klackern Pferdehufe auf dem nassen Straßenpflaster, Motoren röcheln, Karbidlampen tauchen alles in den Schein eines flüchtigen Sonnenaufgangs und im nächsten Moment ist der Spuk auch schon vorüber. Das alles weckt Erinnerungen, mit denen ich mich nur sehr ungern befasse. Ich verdränge sie und konzentriere mich auf meine Suche nach Narcisse' Anwesen.

DrudenkussWhere stories live. Discover now