53) Weiße Folter

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Der Tunnel endet an einer alten, metallbeschlagenen Tür.

Direkt über dem Durchgang prangt ein fünfzackiges Abwehrzeichen gegen Flüche. Obwohl das Zeichen schon alt und stark verwittert ist, kann ich den Effekt spüren. Ein Ziehen und Zerren, als würde mir die Haut vom Schädel gezogen

Étiennes angewidertem Gesichtsausdruck nach zu schließen, ergeht es ihm ähnlich.

Wir zwängen uns durch die Tür und landen in einem Gewölbe, das noch aus der Erbauungszeit der Königsburg stammen muss. Die Wände sind grob gemauert, mehrere Meter dick und ziemlich gut erhalten. In regelmäßigen Abständen sind rostige Fackelhalter ins Mauerwerk eingelassen. Fackeln gibt es jedoch keine. Vermutlich stehen deswegen hier und da einzelne Gaslaternen, die leise rauschen und ein funzeliges, blassgelbes Licht verströmen.

Kleine Blasen aus Helligkeit, die sich gegen eine deutlich mächtigere Finsternis zur Wehr setzen müssen. Man merkt der Dunkelheit hier unten an, dass sie zuerst existiert hat und sich die Vorherrschaft nicht streitig machen lassen will.

Davon abgesehen ist es leer, kalt und still. Falls die Entführer diesen Weg in die Burg genommen haben, sind sie nicht mehr hier.

Trotzdem gehen Étienne und ich weiter.

Nach ein paar Schritten in das Kellergewölbe werden die Steinwände zu beiden Seiten von Eisenstangen abgelöst. Offenbar befinden wir uns in einem Kerker.

»Oh ... Mann ...«, murmelt Étienne, während er an einer der Eisenstangen rüttelt, als wollte er sich von ihrer Stabilität überzeugen.

»Was hast du?«

Étienne bewegt die Schultern, als müsste er ein unangenehmes Gefühl abschütteln. »Nichts.« Er lächelt schief. »Ich musste nur gerade an ein Buch denken, das ich als Kind gelesen habe.« Étienne klopft gegen das Metall. »Der Held des Buchs war genau hier eingesperrt.«

Bei mir klingelt etwas. »Ich glaube, das Buch hab ich auch gelesen.«

»Wirklich?«, fragt Étienne.

Ich versuche, mich zu erinnern. »Ja. Darin ging es um einen Jungen, der während der großen Dürre in den Wäldern des Königs gewildert hat.«

Étienne nickt. »Er wird erwischt, landet im Kerker und freundet sich dort mit einem Gefangenen an, der sich später als Bruder des Königs und rechtmäßiger Thronfolger entpuppt.«

»Und gemeinsam stürzen sie den König«, ergänze ich. »Ein typisches Werk der Nachkriegsliteratur.«

Étienne runzelt die Stirn, als hätte ich etwas Merkwürdiges gesagt.

»Was?«

»Ein typisches Werk der Nachkriegsliteratur«, wiederholt Étienne belustigt. »Das klingt sehr ... gebildet.«

»Ich bin gebildet«, erwidere ich mit gespielter Empörung, auch wenn ich zugeben muss, dass ich diese Information aus dem Albtraum eines Literaturstudenten aufgeschnappt habe. »In der Nachkriegszeit wurden viele Bücher verfasst, die den Niedergang der Monarchie thematisieren.«

»Nun, da war wohl der Wunsch der Vater des Gedankens«, seufzt Étienne. »Immerhin ist der König nur ein paar Jahre nach dem Krieg gestürzt worden.«

»König Lyonel Belladone«, murmele ich, während ich dem Gewölbe folge und dabei durch die Gitterstäbe in die Zellen spähe.

In einer davon enthüllt das funzelige Laternenlicht gezackte Konturen, die eine Aura von Brutalität und Boshaftigkeit verströmen. Mir wird bewusst, dass es sich um alte Folterwerkzeuge handeln muss. Von der Decke baumeln Ketten mit eisernen Ringen. Darunter stehen Streckbänke und Stühle, die mit metallischen Dornen besetzt sind. In einer Ecke der Zelle erblicke ich eine eiserne Jungfrau. Vielleicht die Letzte in ganz Ostragon. Sie trägt einen Mantel aus hellrotem Rost und auf ihren Lippen liegt ein sanftes Lächeln, fast so, als würde sie es genießen, die Gefangenen in ihrem Innern auszuquetschen wie Orangen in einer Saftpresse.

DrudenkussWhere stories live. Discover now