40) Schwere Stunden

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Isabel und ich folgen Theo die Treppe hinunter und ins Freie hinaus.

Der Sturm bläst so heftig über die Wiesen, dass die Böen mich beinahe von den Füßen reißen. Meine Haare machen sich selbstständig und wirbeln mir ins Gesicht. Verschwommen kann ich Adeline und Seymour erkennen, die sich mit Handlaternen durch den Taifun kämpfen. Dabei nähern sie sich einem großen Wagen, der von einer Voiturette mit geschlossenem Verdeck gezogen wird. Die Karbidscheinwerfer des Fahrzeugs flackern durch den Regen.

Mae tritt hinter Isabel und mir ins Freie hinaus und murmelt irgendetwas auf Joumon. Es klingt bestürzt.

»Was ist los?«, frage ich.

»Er hat sich immer noch nicht zurückverwandelt«, übersetzt Isabel.

»Normalerweise verwandelt er sich bloß nachts und selten länger als für ein oder zwei Stunden«, ergänzt Theo.

Ich brauche beide Hände, um meine Haare zu bändigen. »Das ist bestimmt Faucons Schuld. Er hat irgendetwas mit Étienne gemacht.«

»Wir müssen alles daran setzen, den Fluch umzukehren, sonst-« Theo hält inne, als würde er sich plötzlich wieder darauf besinnen, wer ihm zuhört.

»Sonst?«, hake ich nach.

Isabel wirft mir einen vielsagenden Blick zu. »Oma Shira.«

Ich schnappe nach Luft. Der Gedanke, dass Étienne vielleicht vergessen könnte, wie man sich zurückverwandelt, trifft mich wie ein Schlag in die Magengrube. Gleichzeitig verleiht er mir aber auch neue Energie.

Ich lasse die Anderen stehen und folge Adeline und Seymour in die Dunkelheit hinaus.

Schon nach wenigen Schritten bin ich vollkommen durchnässt. Auf den Schlammwegen und im Gras haben sich große Pfützen gebildet. Über den Dünen brodelt der Himmel und fiebriges Wetterleuchten erhellt die stockfinstere Nacht.

»Warten Sie!« Adeline fasst mich an der Schulter und hält mich zurück, bevor ich zum Wagen stürmen und einen Blick auf Étienne werfen kann.

»Aber-«

»Warten Sie«, wiederholt Adeline streng und löst die behandschuhte Hand von meiner Schulter. Es entsteht ein kurzer Moment, in dem wir beide an dieselbe Sache zu denken scheinen. Der Goldmarie-Fluch. Verwandeln sich wirklich alle Dinge, die Adeline berührt, in Gold? »Es ist nicht sicher«, setzt Adeline nach und ich weiß nicht, ob sie von Étienne oder von sich selbst spricht.

Doch dann kann ich das Scharren und Schnaufen aus dem Innern des Wagens vernehmen und weiß, wen sie meint.

Mit wachsender Verzweiflung beobachte ich, wie Seymour und die beiden Männer, die Étienne hergefahren haben, den Wagen abkoppeln.

»Wie haben sie ihn gefunden?«

»Er ist durch die Straßen gezogen und hat alles attackiert oder zerstört, das ihm in den Weg gekommen ist«, antwortet Adeline. »Die Gendarmerie wollte ihn erschießen, aber ich habe meine Kontakte genutzt, um das zu verhindern.«

Ich presse die Lippen aufeinander. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie es ist, wenn man gejagt wird. Es gab Zeiten, in denen ein Preis auf meinen Kopf ausgesetzt war. Zeiten, in denen meine Freunde und Nachbarn nicht gezögert hätten, mich aufzuknüpfen oder in Brand zu stecken.

Nachdem der Wagen abgekoppelt ist, wechseln die beiden Männer noch ein paar Worte mit Adeline. Vermutlich handelt es sich um Kollegen aus ihrer Zeit beim Corps. Sie machen ein paar Witze über das Wetter und entlaufene Stiere, dann steigen sie wieder in ihren Wagen und fahren den Weg zurück, den sie gekommen sind. Mit Sicherheit steht ihnen eine unangenehme und gefährliche Heimfahrt bevor. Ich kann mir kaum vorstellen, was sie dazu bewogen hat, diese Mühen auf sich zu nehmen. Adeline muss wirklich loyale Freunde beim Corps haben.

DrudenkussWo Geschichten leben. Entdecke jetzt