Kapitel 45

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Mit insgesamt drei kleinen Feuerkugeln, die uns als Laternen dienten, schritten wir also tiefer in die Nebelglocke hinein. Je weiter wir liefen, desto kälter kam mir die Luft vor, in der sich irgendwann sogar Wölkchen unseres Atems bildeten. Fröstelnd schlang ich meine Sweatjacke enger um meinen Oberkörper, was leider nur mäßig half. Plötzlich stoppte Ruby, welcher vorne lief, und bedeutete uns mit einer Handgeste, stehenzubleiben. „Ich glaube, da ist jemand. Ich höre Stimmen", wisperte sie uns zu, ehe sie vorsichtig nach vorne schlich.

Wir folgten ihr angespannt und sogleich konnte auch ich zischende Stimmen hören, die sich angeregt zu unterhalten schienen. Wir bogen um eine Ecke und was wir sahen, ließ mir das Blut augenblicklich in den Adern gefrieren ließ. Die Bäume, welche so wuchsen, dass zwischen ihnen ein Kreis mit einem Durchmesser von mindestens fünfzehn Metern dalag, waren viel größer als im restlichen Teil des Waldes. Ein jeder von ihnen war mehr als zwanzig Meter hoch und sie wuchsen so dicht aneinander, dass sie eine Art Mauer bildeten.

An den Bäumen hingen Unmengen Lykaner, allesamt mit Seilen festgebunden und den Kopf erschöpft auf die Brust gesenkt. Ihre Haut wirkte fahl und ihre Wangen eingesunken. Ihre Pose glich der einer Kreuzigung. Zu meiner Rechten hing in zehn Metern Höhe hing eine hübsche Latina, die jedoch so abgemagert war, dass ihre Haut sich stark über ihre Knochen spannte, weshalb man diese sehr deutlich sehen konnte. Der freie Waldboden war komplett verbrannt und kündigte unsere Schritte knisternd an.

Der Geräuschpegel sank binnen einer Sekunde auf Null. Unsere Schritte waren das Einzige, was man hörte. Eine angespannte Stille lag über der Lichtung, welche in ein unnatürlich türkisenes Leuchten getaucht war. Mein Blick huschte verstört von einem Baum zum Nächsten. Mir entwich ein heiserer Schrei, als ich eine mir nur allzu bekannte Person am anderen Ende der Lichtung erblickte. An einer großen Eiche hing ganz oben, abgemagert und kränklich, mein Dad.

Vanessa folgte meinem Blick und jegliche Farbe wich aus ihrem Gesicht, als sie erkannte, wer dort oben an den Baum gebunden war. Langsam erhoben sich wieder die zischenden Stimmen, welche mich letztendlich doch dazu veranlasste, meinen Blick von dem grotesken Bild meines Vaters zu reißen. Als geschlossene Einheit drehten wir uns nach Links, wo die Geräusche herrührten.

„Willkommen! Es freut mich, dass ihr hergefunden habt!", donnerte eine kratzige Stimme, die mir vage bekannt vorkam, doch das passende Gesicht, dem die Stimme gehörte, wollte mir nicht einfallen. Eine schlaksige Gestalt, welche einen schwarzen Umhang trug, der ihr Gesicht verdeckte, trat aus den Schatten der Bäume. Nebel waberten um die Gestalt und bildete um ihre Füße abstrakte Formen. Sie strahlte eine unheimliche Aura aus, die mir eine rekordverdächtige Gänsehaut bescherte.

„Der Spießer?", stammelte Roxy verwirrt, als die verhüllte Gestalt die Kapuze ihres Mantels runterzog und somit offenbarte, wen der Umhang verborgen hatte. Und tatsächlich wurde nun das kränkliche und blasse Gesicht von Marcus vom bläulichen Licht angestrahlt. Teilweise auch von hinten, weswegen es eher aussah wie eine verzerrte Version eines Heiligenscheins. Seine toten Augen richteten sich angewidert auf mich.

„Ich habe dich mehrmals gewarnt, in wessen Gegenwart du dich aufhalten solltest, aber natürlich hast du nicht auf mich gehört. Lykaner! Eine widerliche Sippschaft! Jetzt wirst du die Konsequenzen für deine Sturheit tragen müssen!", knurrte er und hob beschwörend die Arme. Das bizarre Licht spaltete sich in kleine Kugeln, welche unser Feuer löschten, und verdichteten sich zu humanoiden Figuren. Die Lichtung versank für einen Augenblick in pechschwarzer Finsternis, in der Caleb und Ash bedrohlich knurrten, ehe rote Flammen den Kreis erleuchteten, die in Fackeln neben den Bäumen brannten.

Die leuchtenden Menschen hoben ebenfalls die Arme, woraufhin sich ein tosender Wind erhob, der die Bäume ächzen ließ und uns fast von den Füßen riss. „Das sind die gefallen Hexen!", schrie Roxy uns über den Wind zu und begab sich augenblicklich in Kampfhaltung, „Wir geben dir Rückendeckung Lexi! Du musst den Zauber sprechen!"

Überfordert mit der Situation sah ich zu, wie die Anwärter allesamt in die Offensive gingen und jeder zwei bis drei untote Hexer auf einmal angriffen. Ihre Attacken waren präzise und von unheimlicher Geschwindigkeit, doch sie hatten eben in noch keinem Krieg gekämpft. Ihnen fehlte die Erfahrung. Lange würden sie den überlegenen Hexen nicht standhalten können. Caleb und Vanessa knöpften sich Marcus vor, dessen Angriffe längst nicht so wirkungsvoll wie die seiner untoten Mitstreiter oder unsere waren. Ash blieb bei mir und fing entweder Angriffe ab oder schob mich zur Seite, wenn ich selbst sie nicht kommen sah oder nicht schnell genug ausweichen konnte.

Hektisch und mit bebenden Fingern öffnete ich die Schnalle des alten Buches und blätterte panisch darin herum, auf der Suche nach dem richtigen Spruch. Panisch blickte ich auf, als ein gellender Schrei über die Lichtung hallte und Matteo verzweifelt den Namen seiner Freundin rief, welche frontal von einem basketballgroßen Feuerball getroffen wurde. Ein leichter Geruch nach verbranntem Fleisch lag in der Luft. Ihr kompletter Arm war rot und mit weißen Flecken übersät. Der junge Italiener wirbelte herum und gab eine blitzschnelle Salve seiner Eisdolche nach der anderen ab.

Ich spürte eine feuchte Schnauze an meinem Unterarm und verstand Ashs Forderung. Ich hatte endlich den richtigen Zauberspruch gefunden. Ich sah auf Nessas Armbanduhr, die sie mir eben in die Hand gedrückt hatte, und stellte fest, dass es höchste Zeit war, anzufangen. Meine Hände verkrampften sich um das Blatt Papier, als ich anfing, die Formel zu rezitieren. Eine der Hexengeister brüllte empört auf und schlug ihre Faust ins verbrannte Gras. Schrecken erfüllte mich, als ich die vertraute Bewegung erkannte. Ich hatte sie schließlich selbst oft ausgeführt.

Ich griff nach dem Buch und hechtete zur Seite, doch der Riss, der den Boden plötzlich teilte, war viel größer und tiefer, als ich es je hätte erschaffen können. Ich klammerte mich an den Abgrund, der tief in die Dunkelheit hinabfühlte, und merkte verzweifelt, wie mir das Buch aus den Händen fiel. Es wurde von der unten wartenden Dunkelheit verschluckt und traf schließlich mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden auf. Die Notizen meiner Schwester segelten federleicht mit in den Abgrund.

Strampelnd versuchte ich, mich zurück auf den Boden zu ziehen, was mir jedoch nicht gelang. Von allen Seiten drangen Kampfgeräusche, Wassergurgeln, das Peitschen des Windes und das Knistern der magischen Flammen. Man hörte Haut reißen, als Caleb Marcus Arm mit seinen Krallen aufriss und dieser ein schrilles Kreischen von sich gab. Ash war ebenfalls im Kampf verwickelte. Er stand über Lilian welche sich aufzurichten versuchte und momentan kampfunfähig war.

Kraftlos schabten meine mittlerweile abgebrochenen Nägel über den porösen Waldboden, von dem sich nun Erdklumpen lösten und mir nach und nach in die Augen rieselten. Hektisch versuchte ich, meine Füße gegen die Wand des Abgrundes zu drücken und hinauszuklettern, doch auch das sorgte nur für das Ablösen weiterer Erdstücke. Ich keuchte erschöpft, als ich mit Horror bemerkte, dass meine Hand nur noch wenige Zentimeter vom Abgrund entfernt auf dem Boden schabte und dabei büschelweise verbranntes Gras aus dem Boden riss.

Wimmernd irrte mein Blick durch die Gegend. Oben auf dem Baum hing mein Vater. Abgemagert und dem Tode nahe. Hier unten kämpfte meine Familie ein hoffnungsloses Gefecht und vertraute darauf, dass ich den Zauber rechtzeitig sprach. Meine Freunde waren verwundet und kämpften deutlich in der Unterzahl gegen weitaus erfahrenere Hexen, deren Macht durch ihren lodernden Hass Lykanern und Verrätern gegenüber nur noch vergrößert wurde.

Resigniert akzeptierte ich die Wahrheit, dass ich alleine nicht aus dem Abgrund emporsteigen konnte. Gleichzeitig würde ich ohne das alte Buch nichts ausrichten können. Ich könnte auch die untoten Hexen oder den schwächlichen Marcus angreifen, doch auch mich würden irgendwann meine Kräfte verlassen und dann waren wir endgültig Geschichte.

Wutentbrannt starrte ich auf die Hexen, welche nicht einmal ansatzweise erschöpft wirkten. Ein orangener Dampft waberte auf sie zu und als ich seinen Ursprung ausfindig gemacht hatte, stockte mir der Atem. Sie zogen Ihre Kraft aus den Lykanern! Je mehr orangener Dampf aus ihren Oberkörpern wich, desto kränklicher sahen sie aus.

„Nessa!", rief ich und wollte sie somit auf die Dampfschwaden aufmerksam machen, doch sie interpretierte meine Worte wohl ziemlich anders. Schockiert rannte sie zu mir und wollte mich aus dem Abgrund ziehen, als auch die Geister auf uns aufmerksam wurden. Der gleiche Hexer  wie vorhin legte eine Hand auf die Schulter seines Nachbarn, welcher einen Windstoß heraufbeschwor und ihn in unsere Richtung lenkte.

Der Wind erfasste Nessa und mich mit voller Wucht und stieß uns beide endgültig in den Abgrund. Meine Haare flatterten um mein Gesicht und panisch krallte ich mich an meine Schwester, welche ihre Arme ebenfalls um mich schlang. Das Letzte, was ich hörte, bevor sich die Erde über uns zutat, war ein gehässiges Lachen, und eine rauchige Stimme die triumphierend schrie: „Wir werden unbesiegbar sein!"

Torn between WorldsWhere stories live. Discover now