Kapitel 12: Die Vergangenheit vergisst man nicht

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   [Vergangenheit]

»Mama, Mama, Mamaaa!«, rief Lea und zog unserer Mutter voller Enthusiasmus und Energie immer wieder an dem Hosenbein.

Mama hingegen seufzte leise und kniete sich dann zu meiner kleinen Schwester runter, um ihr auf Augenhöhe zu begegnen. Sie sah müde aus – unsere Mutter, meine ich. Ich war damals vielleicht erst acht gewesen, aber ich hatte auch da schon dieses dumpfe Gefühl, dass ich sie besonders jetzt besser nicht nerven sollte – nicht, dass ich es nur jemals überhaupt getan hätte, nur wäre es mir an einem solchen Tag erst recht nicht in den Sinn gekommen. Lea hingegen war erst sechs gewesen und scherte sich darum vielmehr nur um ihre eigenen Angelegenheiten und Probleme. Wie es dabei unserer Mutter gehen würde, daran vermochte sie in solch einem jungen Alter vermutlich nicht einmal zu denken.

»Ja, Schätzchen? Was ist?«, fragte sie in einem unglaublich ruhigen und netten Ton, obwohl Lea sie scheinbar nahezu an ihre Grenzen brachte.

»Kann Mami uns noch eine Gute-Nacht-Geschichte erzählen??«, Lea schaute sie mit ihrem hinterhältigen Hundeblick an, von dem sie ganz genau wusste, dass Mama dann immer schwach werden würde, »Biiiiitte!«

Daraufhin entging Mama ein weiterer Seufzer und sie nickte kapitulierend. »Ja, kann ich machen, Liebling«, sie schaute zwischen Lea und mir hin und her, »Geht ihr beide schon mal ins Bett. Ich komme dann nach.« Dann ging sie ins Bad und ich schaute ihr nach. Sie war gerade erst von der Arbeit gekommen und sah unglaublich gestresst und müde aus. Bestimmt hätte sie sich vielmehr darüber gefreut, Nachhause zu kommen und sich auf der Stelle ausruhen zu können. Trotzdem erbarmte sie sich dazu, uns eine Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen – so sehr liebte unsere Mutter uns nun einmal. Wir waren ihr Ein und Alles.




[Gegenwart]

Wann immer ich heute daran zurückdenke, muss ich schmunzeln und zugleich überkommt mich die tiefe Trauer. Damals habe ich nie erkannt, dass unsere Mutter uns so deutlich zeigte, wie sehr sie uns liebte. Hätte sie es nicht, dann hätte sie vermutlich einfach abgelehnt oder die Arbeit auf unseren Vater abgewälzt, doch sie konnte Lea die Bitte einfach nicht abschlagen. Sie wollte ihr unbedingt ihren Wunsch erfüllen und sie glücklich sehen. Es waren alles Kleinigkeiten, die ich besonders als Kind kaum bemerkt – geschweige denn verstanden – habe, aber heute weiß ich, dass sie einfach eine so liebevolle Mutter gewesen ist, die ihre Kinder mehr als alles andere geliebt hat.

Und ich habe aus ihr ein Monster geschaffen – ein trunkvolles Monster, das nach außen hin wie ein abscheuliches, böses Biest wirkt, doch innerlich nur eine einsame, gebrochene Frau ist, die den Tod ihrer Tochter nicht hat verkraften können und daher bis heute über ihre geliebte Tochter trauert.

Ein Schlüsselrascheln zieht mich plötzlich aus meinen Gedanken und ich schaue auf. Dabei erkenne ich aus dem Augenwinkel Chloes musternden Blick, den sie nicht einmal dann abwendet, sobald sie meinen Augen begegnet, als wolle sie tief in mein Innerstes blicken und es erforschen.

Mich überkommt die blanke Panik.

›Es ist nichts, es ist nichts, es ist nichts‹, versuche ich mir einzureden, doch die Panik lässt sich einfach nicht abschütteln. Es gefällt mir nicht, dass Chloe mein wahres Ich gesehen haben könnte, das ich ihr in dem Moment gar nicht habe zeigen wollen. Dass sie gesehen haben könnte, wie ich wirklich bin und dass es mir gerade wirklich nicht gut geht.

Niemand darf diese Seiten je an mir sehen. Niemals. Nicht ohne meine Erlaubnis.

Dann schaue ich auf meinen Teller herab, dessen Essen darauf nahezu vollständig aufgegessen wurde. Ich weiß nicht, wie und wann ich das geschafft habe, aber schön. Immerhin weiß ich, dass, obwohl ich durch dieses beklemmende, unwohle Gefühl kaum Appetit hatte, mein Körper ganz automatisch seine Aufgaben erfüllt, um keinen Verdacht zu erregen. Hat er dann vielleicht auch auf mögliche Fragen von Chloes Mutter geantwortet, von denen ich nichts mitbekommen habe? Ich will es hoffen. Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass wir am Esstisch vollkommen geschwiegen haben, aber so sehr ich es auch versuche, ich kann ein mögliches Gespräch einfach nicht rekapitulieren.

When Hate Turns Into LoveWhere stories live. Discover now