Kapitel 53: Was wäre, wenn?

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   Nachdem wir uns abermals den Tränen hingegeben und noch Stunden in den Armen gelegen haben, haben wir noch eine Kleinigkeit gegessen – eher gesagt, habe ich uns beide dazu gezwungen – und sind anschließend beide müde ins Bett gefallen. Dass ich heute die Nacht bei meiner Freundin verbringen würde, ist für alle Beteiligten von Anfang an klar gewesen. Nie im Leben würde ich sie in diesem Zustand freiwillig alleine lassen. Ich bereue es bereits zutiefst, auf ihre Bitte gehört und sie drei Tage allein gelassen zu haben. Dafür werde ich jetzt umso mehr für sie da sein.

Wir reden nicht, obwohl wir beide wach im Bett liegen. Jeder ist mit sich selbst beschäftigt und tief in seinen Gedanken versunken, aber wir spüren einander – wir wissen trotzdem, dass wir für einander da sind. Wie so oft kraule ich sie am Kopf und spiele mit ihren seidigen Haaren, die mich auch heute leicht am Hals kitzeln.

»Chloe...«, durchbricht meine Freundin schließlich diese ellenlange Stille, doch ihre Stimme ist kaum lauter als ein Hauchen erklungen.

»Ja, was ist?«, frage ich sanft und streiche ihr eine verirrte Strähne aus dem Gesicht, nur um sie eindringlich zu mustern. Ihre Züge wirken verspannt, sodass alles in mir aufhorcht und sich eine tiefe Schwere in mir drinnen niederlässt. Ich will Phoebe nicht so sehen, aber gleichzeitig weiß ich, dass mir die Hände gebunden sind.

»Nichts«, flüstert sie, ohne mich anzusehen, »Ich wollte nur den Klang deines Namens und deiner Stimme hören.« Wenn sie es nicht mit dieser tiefen Trauer in ihrer Stimme und diesen bedrückten Zügen auf ihrer Miene gesagt hätte, hätten diese Worte mein Herz bestimmt bis in den siebten Himmel flattern lassen, aber jetzt gerade fällt dieses und zersplittert beim Aufprall schmervoll in abertausende Einzelteile.

Es ist Phoebe. Mein Gott, es ist Phoebe – die Person, die immer vorgibt, dass es ihr gut geht. Die Person, die einem immerzu weismachen möchte, dass sie nichts im Leben aus der Ruhe bringen könnte – dass sie alles im Leben schon bewältigen könne. Gerade diese Phoebe liegt gebrochen in meinen Armen und hat nicht einmal mehr die Kraft, ihren Schmerz hinter einer falschen Fassade zu verstecken.

»Was liegt dir denn auf der Seele?«, will ich nun wissen. Schließlich sehe ich, dass dem ganz offensichtlich so ist – natürlich, immerhin hat sie gerade erst ihre Mutter verloren – und auch wenn sie vermutlich Einiges mit sich selbst auszumachen versuchen wird, will ich ihr trotzdem manche Lasten von den Schultern nehmen, wann immer ich das kann. Dabei spielt es keine Rolle, ob es um die jüngsten Ereignisse geht.

Zu Beginn scheint sie unentschlossen, ob sie mir das wirklich sagen möchte, und ich hätte es akzeptiert, wenn sie nicht bereit gewesen wäre, zu reden. Ich wäre die Letzte, die sie gezwungen hätte, aber nach einem resignierten Seufzen hat sie sich scheinbar selbst einen Ruck gegeben. »Wie würde mein Leben heute aussehen, wenn das mit Lea nie passiert wäre? Dieser Gedanke will mir einfach nicht aus dem Kopf gehen.« Auf einmal legt sich ein bedrückter, trauriger Schleier um ihr Gesicht und ich blicke sie mitleidig an. Es zerreißt mir das Herz, sie so zu sehen. Als jemand, der sie über alles liebt, will ich sie eben lachen und glücklich sehen – aber nicht so.

Ihre Gedanken wundern mich nicht. Sie hat erst vor Kurzem ihre Mutter verloren. Natürlich beginnt sie, alles mit Leas Tod als Auslöser für das Folgende zu verknüpfen und sich alle möglichen Alternativgeschehnisse auszumalen. Jeder hat sich bestimmt schon gefragt, wie das Leben wäre, wenn bestimmte Ereignisse nie stattgefunden hätte – wenn man in manchen Situationen vielleicht anders gehandelt hätte. Wer würde es ihr in ihrer Situation nicht auch gleichtun?

»Vielleicht ist es richtig egoistisch, das zu sagen«, beginne ich mit ernster Miene und ich verhake meine Finger spielerisch mit ihren, »und danach werde ich wohl dazu verdammt sein, mein Leben in der Hölle zu verbringen, aber ich bin dankbar für die Umstände – mal abgesehen von meiner ersten gescheiterten Beziehung. Ja, es tut mir wahnsinnig leid wegen deiner Schwester und ich würde ihr niemals den Tod wünschen, aber nur dadurch seid ihr hierhergezogen und ich konnte dich kennenlernen.« Unter anderen Umständen wären wir vielleicht wirklich nur Schulkameraden geblieben, wie ich es meiner Mutter damals versichert habe. Vielleicht hätte ich sie auch erst nie kennengelernt.

When Hate Turns Into LoveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt