Kapitel 48

3 1 0
                                    

„Und wie sieht dieses zweete Ich aus? Flügel hast'e ja jetzt schon." Er deutet auf meinen Rücken, wo sich zwei große, lederne Flügel befinden. Sie zittern bei seinen Worten, wollen aufgespannt werden, doch das ist nicht möglich. Ich konzentriere mich also lieber auf die gestellte Frage.

„Drachen unterscheiden sich sehr stark. Keiner gleicht dem anderen. Manche sind majestätisch groß, elegant oder kräftig, andere sind in ihrer verwandelten Form kleiner als in Menschengestalt. Ich in den Farben unterscheiden wir uns stark. Manche haben schillernde Schuppen, die das Licht der Sonne reflektieren, andere sind dunkel, sodass sie am Nachthimmel kaum auffallen", erkläre ich. Ich denke dabei an die verschiedenen Drachen, die mir im Laufe meines Lebens schon begegnet sind. Ich kannte mal einen, der gerade so groß war wie eine Katze. Seine fehlende Größe machte er allerdings mit einem ausgeprägten Ego und viel Temperament wett.

„Und wat is mit dir?", werde ich aus meinen Gedanken gerissen. Ich schaue zu dem Mann, der nun ebenfalls nach einem Sandwich greift und mich interessiert mustert.
„Aus Sicht eines Drachen habe ich eine durchschnittliche Größe, aber ..." Ich sehe mich in der kleinen Küche um. „In diesen Raum hier würde ich ziemlich sicher nicht passen." Der Mann schmunzelt, sagt aber nichts. Offensichtlich wartet er, bis ich fortfahre. „Meine Schuppen haben dieselbe Farbe wie meine Flügel." Schwarz, im richtigen Licht allerdings eher dunkelblau. Ich spreche nicht weiter, weiß ehrlich gesagt auch gar nicht, was ich noch sagen sollte.

Einen Moment herrscht Schweigen, dann werde ich weiter ausgefragt. Ob ich Feuer spucken kann - ja. Ob ich gut kämpfen kann - theoretisch ja, aber gegen die Waffen der Jäger habe ich keine Chance. Ob es sehr viele Drache gibt - vor langer Zeit schon, mittlerweile werden wir immer weniger. Wie es sich anfühlt, zu fliegen - es ist berauschend und man hat das Gefühl absoluter Freiheit. Irgendwann kommt die Frage, ob ich auch in meiner Menschengestalt fliegen kann. Ich schlucke.

„Ja, eigentlich kann ich auch in dieser Gestalt fliegen, nur ..." Ich wackle unbewusst mit meinen Flügeln, der Mann sieht mich fragend an. „Die Jäger haben irgendwas mit mir gemacht. Ich war bewusstlos und als ich aufwachte, konnte ich meine Flügel nicht mehr bewegen", gebe ich zu. Ich habe es schon mehrmals probiert, kann allerdings nicht erkennen, was sie mir angetan haben.
„Darf ick mal sehen? Vielleicht kann ick helfen", bietet der Mann an. Ich lächle dankbar und wende ihm meinen Rücken zu. Sofort spüre ich kalte, zittrige Finger über die empfindliche Haut streichen. es tut zum Glück nicht weh und nach kurzer Zeit höre ich den Mann schnaufen.

„Ah, da haben wa ja dat Problem", stellt er fest.
„Was ist es?"
„Nix Schlimmes, glob mir. Ick muss nur kurz ..." Ich höre, wie der Mann weg geht, nach wenigen Sekunden aber wieder an meinen Flügeln ist. „Schön stillhalten", sagt er. Ich höre ein leises Reißen und springe vor Schreck vorwärts. Meine Flügel breite ich dabei aus, sie schlagen aufgeregt auf und nieder. Es schmerzt in den Muskeln, als hätte ich Muskelkater, doch ansonsten scheint alles gut zu sein. Ungläubig drehe ich mich zu dem Mann, der einen Lederriemen in den Händen hält. „Mit dem war'n deene Flüjel festjemacht", erklärt er. „Direkt an da Wurzel, vielleicht haste es deswegen nich jemerkt."

Ich nicke benommen, habe noch gar nicht richtig begriffen, was hier vorgeht.
„Danke", sage ich automatisch und der Mann lächelt.
„Keen Problem. Du hast mir jeholfen und ick dir." Und wie er mir geholfen hat. Meine Flügel waren immer das Heiligste für mich. Sie nicht benutzten zu können, hat mich fast kaputt gemacht.

Mein Blick fällt auf das Fenster und ein sehnsuchtsvolles Seufzen verlässt meine Lippen.
„Ich würde so gerne wieder fliegen." Den Wind auf meiner Haut spüren. Die Welt von oben betrachten. Mit den Wolken tanzen. Es fehlt mir so unbeschreiblich.
„Du wirst es wieder können", sagt der Mann mitfühlend. „Jetz noch nich, aber bald. Die Jäger ziehen sich schon Stück für Stück aus de Stadt zurück, suchen in anderen Jebieten nach Wesen. Bis se alle weg sind, kannst'e gerne hier bei mir bleiben. Ick freue mich über Jesellschaft. Und danach biste frei."
Der Mann lächelt und ich tue es ebenfalls.

- Ende -


Gejagt - eine interaktive GeschichteWhere stories live. Discover now