Kapitel 57

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Der Wolf und ich verlassen die Höhle und brechen sofort auf. Wir steigen höher in die Berge, in der Hoffnung, sie zu überqueren und auf der anderen Seite einen Ort zu finden, an dem wir sicher sind.
„Du scheinst dich hier wohlzufühlen", bemerkt mein Begleiter nach einer Weile. Ich schaue fragend zu ihm auf, grinse dann aber.
„Ja, ich mag die Berge sehr gerne. Ich bin in so einem Gebiet aufgewachsen." Ich seufze bei dem Gedanken an meine Vergangenheit. Die Melodie, die ich bis eben noch gesummt habe, ist verstummt.

Der Werwolf bemerkt natürlich, wie sich meine Stimmung verändert. „Tut mir leid", sagt er. „Ich wollte dich nicht an traurige Zeiten erinnern."
„Das hast du nicht, keine Sorge. Die Zeiten waren sogar sehr schön. Es ist nur so - ich vermisse sie so sehr."
„Sie?"
„Meine Familie, Freunde. Mein Volk. Wir Zwerge leben in großen Gemeinschaften, jeder hält zusammen. Ähnlich wie ihr Wölfe sind auch wir nicht für das Alleinsein gemacht." Der Mann scheint nicht zu wissen, was er darauf erwidern soll, denn er bleibt stumm.

„Was war das für eine Melodie?", fragt er schließlich. Noch immer laufen wir ohne Pause, obwohl wir die Jäger schon vor einer ganzen Weile aus den Augen verloren haben. Es ist unwahrscheinlich, dass sie uns demnächst einholen.
„Sie stammt von einem Lied, das meine Ma mir immer vorgesungen hat."
„Also gibt es dazu auch einen Text?"
„Gibt es, aber den willst du nicht hören. Nicht von mir. Meine Singstimme würde sämtliche Feinde in die Flucht schlagen", scherze ich. Der Werwolf lacht tatsächlich und versichert, dass es bei seiner Stimme genauso sei.

„Die Melodie klingt jedenfalls sehr schön", sagt er dann. „Worum geht es in dem Lied?"
„Hauptsächlich um die Arbeit in Minen. Aber wenn man zwischen den Zeilen liest, könnte es auch ein Liebeslied sein."
„Ich würde es wirklich gerne hören. Magst du es mir nicht doch mal vorsingen?" Letztendlich kann es mir egal sein, es sind seine Ohren, die darunter leiden müssen. Also zucke ich nur mit den Schultern und beginne dann mit der ersten Strophe.

Es ist lange her, dass mir dieses Lied vorgesungen wurde und doch erinnere ich mich noch an jedes einzelne Wort. Der Text drückt so viele Gefühle aus - Sehnsucht, Stolz, Liebe. Um diese Empfindungen auch spüren zu können, schließe ich die Augen. ich konzentriere mich nur noch auf mich und das Lied. Deshalb merke ich zunächst gar nicht, wie der Werwolf stehen bleibt. Erst als er meinen Namen sagt, öffne ich meine Augen und bleibe ebenfalls stehen.

„Was ist? War es so schlecht?", frage ich grinsend. „Tja, ich hatte dich gewarnt." Doch als ich mich umdrehe und den alarmierten Ausdruck in dem Gesicht des Mannes sehe, vergeht mir das Grinsen.
„Was ist?", frage ich besorgt. „Witterst du die Jäger?" Die Nase des Werwolfes zuckt, als würde sie mit Reizen überflutet werden.
„Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall ist da jemand."
„Wo? Wie viele?" Ich nutzte meine gute Sehkraft, um die Umgebung abzuscannen, doch ich konnte nichts entdecken, jedenfalls im ersten Moment nicht.

Der Wolf und ich stehen etwa eine Minute unbewegt da. Ich wünschte, ich hätte meine Axt dabei oder wenigstens eine andere Waffe, mit der ich mich verteidigen könnte.
„Was witterst du jetzt?", frage ich gerade, als sie auch schon ihr Versteck verlassen und uns in wenigen Sekunden umzingeln. Erst dachte ich, unser Ende sei nun gekommen, doch dann erkenne ich, wer sich uns in den Weg stellt.

„Zwerge!", raufe ich überrascht und zugleich erleichtert aus. Auch sie erkennen mich als jemanden der Ihren und lassen sofort ihre Waffen sinken. Einer der Zwerge, vermutlich der Anführer, kommt auf uns zu.
„Was macht ihr hier?", fragt er mit der tiefen, rauen Stimme, die typisch für uns Zwerge ist - egal ob männlich oder weiblich.

Der Zwergenhäuptling beachtet meinen Begleiter mit keinem Blick und sieht stattdessen mich auffordernd an. Also erkläre ich, was uns in die Berge führt. Dass wir Gefangene waren und uns zusammengetan haben, um zu fliehen.
„Sind sie jetzt immer noch hinter euch her?" Der Zwerg klingt zumindest nicht beunruhigt oder verärgert, obwohl wir möglicherweise Jäger in ihr Gebiet gelockt haben.
„Ich bin nicht sicher. Heute Morgen haben wir ein paar von ihnen gesehen, aber die haben wir schon vor einigen Stunden abgehängt. Ich weiß nicht, ob sie uns noch immer folgen."

Der Häuptling nickt nachdenklich, dann wirft er einen Blick über die Schulter.
„Na gut, ihr dürft mitkommen, bis ihr sicher seid, dass die Jäger fort sind." Er wendet sich wieder direkt an mich: „Du darfst danach gerne bleiben, wenn du keinen anderes Zuhause findest. Aber du", nun sieht er das erste Mal meinen Begleiter an, „die Minen sind kein Ort für einen Werwolf. Wie gesagt, du darfst bleiben, bis die Jäger fort sind und du wieder neue Kraft getankt hast, aber dann musst du gehen." Das überrascht mich nicht. Wir Zwerge sind von Natur aus sehr zurückgezogen und geben uns für gewöhnlich nur mit Unseresgleichen ab.

Der Werwolf nickt, anscheinend ist er ein wenig eingeschüchtert von der Grobheit der Zwerge - wobei er sich in der Zeit mit mir eigentlich schon etwas daran gewöhnt haben sollte. Ich schenke ihm ein Lächeln, um ihn etwas aufzumuntern. Ein Unterschlupf bei den Zwergen ist das Beste, was uns passieren konnte. Die Höhlen sind normalerweise so gut versteckt, dass kein Jäger sie finden kann. Uns wird in Obhut meines Volkes nichts passieren. Alles, was danach kommt, braucht uns jetzt noch nicht zu interessieren. Für den Moment sind wir sicher.

- Ende -

Gejagt - eine interaktive GeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt