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Leonie verschwand im Innern, ließ die Tür offen stehen und machte Licht. Das war kein Ja, aber sozusagen eine Einladung, dachte er überrascht und folgte ihr. Er befand sich in einem kleinen Flur, auf dessen Konsole sich ungeöffnete Briefe stapelten. Vier Türen gingen von hier ab. In einer stand sie und starrte konzentriert hinein. Er bemerkte, dass sie ihre Stiefel abgestreift und sie ein Loch im Strumpf hatte. Was ihn irgendwie betroffen machte.

Auch ihren Mantel hatte sie ausgezogen und einfach fallen lassen. Er schälte sich ebenfalls aus den Outdoorsachen, nachdem er die Wohnungstür geschlossen hatte, und stellte sich neben sie. In diesem Raum war es relativ ordentlich. Es lagen ein paar Klamotten herum, das Bett darin war ungemacht und es miefte ein bisschen, als hätte sie vergessen zu lüften. Leonie starrte aufs Boxspringbett und auf einmal erkannte er, dass sie zitterte.

„Das war Jessis Zimmer", stellte er eher zu sich selbst gerichtet fest und ihr Blick flog zu ihm.

„Ja", wisperte sie und jetzt war die Qual wieder greifbar.

Ihr kamen auch erneut die Tränen, als sie zugab: „Ich steh oft hier und schau hinein. Ich kann nicht vorbei- oder reingehen. Nicht mehr."

Er zog sie an sich und sein Herz brach, als ihm etwas aufging. Er hatte es vorher nicht begriffen. Aber jetzt, als sie so verloren im Türrahmen stand und sie zusammen einen Schatten in diesen Raum vom Lichtschein im Flur warfen, verstand er. Eigentlich war es logisch, oder?

Er bettete ihren Kopf auf seiner Schulter und fragte sich, warum er so mit ihr litt, als er erkundigte: „Du hast sie gefunden, stimmt's?"

„Ja", brach es aus ihr hervor und erneut schüttelten sie die Gefühle, die sie vermutlich zuvor nicht zugelassen hatte.

Der Knoten war jetzt endgültig geplatzt, ging ihm auf, während sie sich mühte, die Infos, die sie ihm mitteilen musste, in eine verständliche Form zu bringen. Sie war so schmal in seinen Armen. Und zitterte heftig und gequälte Laute mischten sich zwischen die Worte, die er kaum erfasste. Er musste sich konzentrieren, ihr zu folgen, weil sie so abgehakt sprach, aber irgendwie gelang es ihm.

Er lauschte ihrer sich überschlagenden Stimme, die gleichzeitig rau war, während sie völlig außer sich erklärte: „Ich seh sie da weiter liegen. Ich war so wütend. Ich kam von der Uni und sie lag da. Wir hatten eine Vereinbarung. Sie musste zumindest aufstehen, bis ich nach Hause kam. Aber sie lag noch im Bett. Ich bin hineingestürmt und hab sie angebrüllt, ob sie sich nicht mal mehr daran halten kann. Sie sah so friedlich aus, als hätte es ihre Dämonen nie gegeben. Ich hab immer gedacht, die Menschen würden den Scheiß kotzen, aber bei Jessi war es nicht so. Doch sie war blass. Und so verdammt kalt. Dann hab ich erst die Pillendosen gesehen. Ich hab geschrien. Ich hab sie angebrüllt, dass es nicht ihr Ernst sei. Dass sie das nicht tun könne. Die Nachbarn haben die Polizei gerufen. Die hat die Tür aufgebrochen, weil ich so schrie. Sie haben mich ruhiggestellt. Sie haben gesagt, es ist nicht meine Schuld. Aber das war es. Sie ist einfach nicht aufgewacht."

„Ok", sagte er, da ihm die Worte fehlten und er merkte, wie ihm selbst fast die Tränen kamen, weil er die Situation deutlich vor Augen hatte.

Er spürte, dass sie wankte, und hob sie kurzerhand auf seine Arme, um sie von hier wegzutragen. Scheiße. Sie war viel zu leicht für ihre Größe. Darum schlackerte die Hose um ihre Beine. Instinktiv betrat er den Raum, der schräg gegenüber von Jessis Schlafzimmer lag und erkannte, dass im Wohnzimmer das Chaos seinen Mittelpunkt hatte. Demnach hielt sie sich auch hier am meisten auf. Hier müffelte es ebenfalls, doch das störte ihn gerade nicht. Er wollte nur, dass es ihr wieder besser ging.

Das war in diesem Moment das Einzige, das zählte. Warum verstand er noch nicht ganz. Sie war eine Fremde. Er glitt aufs Sofa, zog Leonie näher und ließ sie einfach weinen. Sie erzählte nichts mehr. Aber sie weinte, dass ihm anders wurde. Hatte sie all diese Emotionen in sich verborgen? Da waren die Gefühlsausbrüche vorher nur laue Brisen gewesen und die hatten ihn schon erschüttert.

Irgendwann hauchte sie, dass sie müde war und er nickte. Das konnte er sich vorstellen. Sein Pulli war ganz nass an der Stelle, an der ihre Tränen auf den Stoff getroffen waren. Er sagte ihr, dass es ok war und sie sich ausruhen dürfe. Er würde bleiben, bis sie eingeschlafen war. Es war gut, dass sie die Gefühle losgeworden war, oder? Scheiße.

Falls er nicht aus der Wohnung geflüchtet und sie nicht in ihn hineingerannt wäre, würde sie wahrscheinlich nicht mehr leben. Dessen war er sich nun ziemlich sicher. Während er merkte, dass ihre Atemzüge nicht weiter stoßweise kamen, sondern ruhiger und langsamer wurden, sah er sich um. Er unterdrückte das Kopfschütteln. Es war eigentlich ein schöner Raum und was er so durch Mond- und Flurlicht erkennen konnte, war auch das Mobiliar nicht hässlich.

Es gab keine Anbauwand, sondern nur zwei Kommoden und auf einer befand sich der Fernseher. Es waren Fotografien an den Wänden, doch die Abbildungen darauf erkannte er durch die Entfernung nicht. Vor ihm stand ein Couchtisch, auf dem sich Papiere - wohl Briefe oder so - den Platz mit leeren Gummibärchentüten und geleerten Flaschen teilten. Er sah sowohl Wein-, Spirituosen- als auch Softdrinkflaschen. Ganz unten sah er einen Laptop hervorblitzen, auf dessen Rücken eingetrocknete Tassenringe zu sehen waren.

Für die Uni machte sie also schon länger nichts mehr. Auf dem Sessel, der neben dem zugemüllten Schreibtisch und dem Bücherregal stand, türmten sich genauso wie auf dem Schreibtischstuhl Klamotten. Es war zu deutlich, wie sehr sie das Leben gerade überforderte. Aber wieso war niemand für sie da? Warum kümmerte sich keiner um sie? Verschlossen ihre Angehörigen ihre Augen vor der Wahrheit? Oder lehnte Leonie jede Hilfe ab? Doch weshalb würde sie das tun? Und wieso interessierte es ihn so sehr?

Als er bemerkte, dass sie eingeschlafen war, bugsierte er sie vorsichtig von seinem Schoß. Er bettete sie auf dem Kopfkissen, dessen Bezug auch schon bessere Zeiten gesehen hatte, und deckte sie mit der Decke zu, die zusammengeknüllt am anderen Ende des großen Sofas lag. Das Mondlicht beleuchtete ihr hübsches Gesicht und er schüttelte erstaunt den Kopf.

Dieser Tag war einfach irre. Leonie wirkte jetzt aber friedlich und deswegen sollte er sich vom Acker machen. Er sollte das als Verrücktheit des Lebens abtun und gehen. Doch irgendwie konnte er nicht. Es war klar, dass sich niemand um sie kümmerte und er merkte, dass er das Bedürfnis dazu hatte. Er war eigentlich kein Kümmerer. Eher ein Einzelgänger. Er war sich selbst genug. Meistens jedenfalls. Im Moment nicht so. Aber das tat nichts zur Sache.

Er würde nicht gehen. Es wurde ihm sehr schlagartig klar, dass er sie nicht alleine lassen konnte. Jeden Schritt, mit dem er sich von ihrer Wohnung entfernte, würde er bereuen. Sie machte nicht den Anschein, als würde sie ihr Herz auf der Zunge tragen und doch hatte sie sich ihm geöffnet. Nicht ganz freiwillig, das war ihm klar. Aber dadurch hatte sie ihn in ihr Leben eingebunden, egal, ob ihr das bewusst war oder nicht. Er ging in den Flur und löschte das Licht und entdeckte eine Wohndecke, die vom Sofa gerutscht war. Die schnappte er sich, legte sich auf die Ottomane, obwohl die viel zu kurz war und platzierte seinen Kopf neben ihrem.

‚Ich werde dich nicht allein lassen. Ich werde nicht zulassen, dass du dich deinen Dämonen ergibst', versprach er ihr still.

‚Duschen geht sie aber offenbar noch', dachte er, während ihn der Honigduft ihres Haares umfing er und er fast augenblicklich erschöpft einschlief, nachdem er die Augenlider geschlossen hatte.

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NachbebenWhere stories live. Discover now