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Es klopfte. Sie erhob sich von ihrem Schreibtisch und lief zur Wohnungstür. Til war wie immer pünktlich und sie war gespannt, was er sagte, wenn er entdeckte, dass sie den ganzen Tag Papiere geordnet und abgelegt hatte. In den letzten Wochen hatte sich viel in ihrem Leben verändert. Sie war noch nicht die Alte und sicher litt sie weiterhin unter gravierenden Stimmungsschwankungen, aber es war besser, seit Til sie fast täglich in ihrer Blase besuchte. Sie bekam wieder ein bisschen mehr Luft. Und sie hatten gemeinsam nach und nach etwas Licht in das Chaos gebracht, das ihr Leben seit Jessis Tod geworden war.

„Hey", sagte sie, nachdem sie die Tür geöffnet hatte und ihr Lächeln erstarb.

„Wieso hast du einen Karton und diverse Taschen mit?"

„Weil meine Mitbewohner jemanden gefunden haben, der auch mit ihnen Party machen möchte und sich nicht darüber beschwert."

„Scheiße. Und jetzt?"

„Ähm. Äh, ich hatte gehofft, also... äh", stammelte er und sie riss die Augen auf.

„Jessis Schlafzimmer?"

„Ich finde auf die Schnelle kein anderes Zimmer, Leonie. Ich kann mir aber auch eine Unterkunft in einer Jugendherberge oder einem Hostel suchen. Das ist ok."

Ihre Brust war ganz eng. Sie konnte immer noch nicht in den Raum gehen. Doch der Kerl, den sie irgendwie besser als gut fand, stand vor ihr und bat sie um Asyl. Sie könnte ihm die Kohle locker geben, da ihre Eltern ihr Konto weiterhin auffüllten, obwohl sie sich eine Auszeit vom Studium genommen hatte, aber das würde er nicht wollen. Er war so aufgewachsen, dass man sich nichts schenken ließ, das wusste sie mittlerweile aus einem ihrer Gespräche.

Sie merkte, dass sie zu zittern anfing, gab sich dennoch einen Ruck und sagte: „Dann werden wir wohl heute Jessis Sachen verpacken."

„Wirklich? Sicher? Leo-nie, falls du das nicht möchtest, ist es ok, verstehst du? Wenn du dafür noch Zeit brauchst, geht das klar..."

Ihr fiel auf, dass er den Zusatz zu Leo schnell nachgeschoben hatte, nachdem sie einmal deswegen in einen schier unendlichen Heulkrampf ausgebrochen war. So hatte sie nur Jessi genannt. Darum hatte sie es nicht ertragen, dass er sie so bezeichnete. Sie nickte nur und schob die Tür weiter auf.

„Kannst es derweil ins Wohnzimmer bringen. Ich hatte eigentlich vor, die beiden Zimmer irgendwann zu switchen, sodass ich nicht mehr im Wohnraum penne, aber egal. Ein Mitbewohner ist toll, vor allem, wenn er sich benehmen kann, so wie du. Außerdem weiß ich, dass du nicht damit ankommen würdest, falls es nicht eng wäre. Also rein mit dir."

„Bist du dir wirklich sicher?"

„Wenn du nicht reinkommst, dann überlege ich es mir vielleicht nochmal."

„Ok, das Risiko gehe ich lieber nicht ein."

Sie verdrehte die Augen und merkte, wie sich ihre Mundwinkel kurz nach oben zogen. Das machten sie jetzt wieder öfter. Scheiße, sie fand ihn echt süß. Aber sie würde sich unter Garantie nicht nochmal blamieren. Seine Reaktion auf den Kuss war deutlich gewesen.

Sie wusste selbst nicht, was sie in diesem Moment geritten hatte. Es hatte sich nur so gut angefühlt, wie seine Hand auf ihrem Oberschenkel die Kälte in ihrem Innersten vertrieben hatte, und dann war es passiert: Sie hatte ihn geküsst. Und er war zurückgewichen. Sie hätte sich am liebsten in einem Mauseloch verkrochen.

Panisch hatte sie gestammelt, wie peinlich ihr das war und wie leid es ihr tue, und er hatte sie nur angesehen. Dann hatte er sie in seine Arme gezogen und gemurmelt, es sei ok. Woraufhin sie geheult hatte. Wieder einmal. Er hatte wirklich viel ertragen in den letzten Wochen.

„Leonie? Alles ok?"

„Ja, na klar. Was soll schon sein?"

„Du siehst nicht so aus, als ginge es dir gut bei dem Gedanken, dass ich in Jessis Schlafzimmer ziehe."

„Das hat nichts mit dir zu tun und das weißt du!"

„Ok. Jetzt hab ich ein dummes Gefühl dabei."

„Dann stell es ab. Ich hab gesagt, du kannst das Zimmer haben und damit ist es gut jetzt!"

Sie bemerkte, wie entgeistert er wegen ihres harschen Tonfalls war, aber er nickte nur. Plötzlich war sie von Wut erfüllt und wusste nicht, woher sie kam. Sie wusste nur, dass sie Jessis Zimmer, das sie seit Monaten nicht betreten hatte, heute in Schuss bringen musste, damit Til nicht irgendwo anders schlafen musste.

„Ich hol Kartons aus dem Kellerabteil", sagte sie deswegen gelassener, als sie sich fühlte, schnappte sich den Schlüssel und verließ die Wohnung.

Ich bin einfach nicht darauf vorbereitet gewesen. Ich schaff das aber. Für Til', dachte sie und war froh, kurz allein zu sein.

Sie betrat das Kellerabteil und ihr Blick fiel auf das Sammelsurium, das sich Jessi angehäuft hatte. Von ihr waren nicht so viele Dinge darin. Nur ihr Fahrrad, mit dem sie sonst zur Uni gefahren war. Sie entdeckte den alten Steiff-Stoffbären, den sie ihrer Freundin mal geschenkt hatte. Ihre Eltern waren nicht begeistert gewesen und sie hatte sich damit richtig Ärger eingehandelt. Sie nahm ihn hoch und bevor sie sich kontrollieren konnte, brach sie in Tränen aus.

Sie ließ sich auf den kalten Betonboden plumpsen und heulte sich die Augen aus dem Kopf, als die Erinnerungen sie fluteten. Jessi hatte sie damals so angestrahlt, als hätte sie ihr die Welt zu Füßen gelegt. Aber sie hatte einige davon gehabt und ihre Freundin hatte ihn so bewundert. Jessi hatte er viel mehr bedeutet als ihr. Sie hatte ihn überallhin mitgenommen, wenn sie ins Schullandheim oder sonst irgendwohin gefahren waren. Nur wegen ihr staubte er hier ein. Weil sie Jessi sagte, sie wäre wirklich zu alt für diesen dummen Bären und ihn weggepackt hatte.

„Leonie?", hörte sie Til rufen und sie wischte sich hastig die Tränen vom Gesicht.

„Hier!", erwiderte sie und legte alle Festigkeit in ihre Stimme, die sie aufbieten konnte.

Sicherheitshalber stand sie auf und drehte sich so, dass Til nur ihre Rückansicht sah, wenn er das Kellerabteil betrat. So hatte sie noch etwas Zeit, sich zu fangen. Aber Jessis Unglaube und das resignierte Nachgeben bohrte sich wie ein Stachel in ihr Herz und sie fragte sich, wie sie nur so ignorant gewesen sein konnte. Wie hatte sie vergessen können, wie viel der Bär Jessi bedeutet hatte?

Erneut kämpfte sie mit den Tränen und schrak zusammen, als sie an der Schulter angetippt wurde. Sie fuhr automatisch herum und merkte, wie Til sie musterte.

„Ok, das reicht. Du hast geweint. Ich geh in ein Hostel."

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NachbebenWhere stories live. Discover now