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30 10 19
                                    

‚Das ist das Problem', dachte er und verstand, während er ihr beruhigend durchs Haar strich und hörte: „Ich hab sie immer ausgelacht. Weil sie eine hoffnungslose Romantikerin war und sich eine Hochzeit mit allem Pipapo ausgemalt hat. Ich bin noch nie überzeugt gewesen von der Ehe, aber ich hab mitgespielt. Weil ihre Augen immer so verträumt geglänzt haben."

Er hatte auch nie über Ehe nachgedacht und er musste zugeben, hätte Leonie nicht den Spruch gerissen, wäre es wahrscheinlich so geblieben. Hieß jetzt nicht, dass er den Wunsch hatte, sofort vor den Traualtar zu rennen und sich auf ewig an einen Menschen zu binden, doch zumindest war er bei dem Gedanken nicht mehr völlig kopflos davongerannt. Das war ein Fortschritt für seine Verhältnisse.

‚Aber das hat gar nichts mit Leonie zu tun', erinnerte er sich und sagte: „Ich verstehe."

„Sie fehlt mir so. Jetzt gerade fehlt sie mir so sehr, dass ich glaube, mein Herz bricht in tausend Teile und ich kann sie nicht festhalten. Dabei sollte ich doch glücklich sein, oder? Ich meine, ich hab mich zum ersten Mal so richtig verliebt und ich kann es ihr nicht erzählen. Ich kann ihr nicht sagen, dass sie Recht hatte. Dass jede Kopfentscheidung die Partnerwahl betreffend total abstinkt, wenn man sich getraut hat, auf sein Herz zu hören."

Jetzt begriff er, worum es tatsächlich ging. Es ging nicht darum, ob sie irgendwann heiraten wollte. Sie hatte das Gefühl, ihre Gedanken und ihre Emotionen nicht mehr teilen zu können. Weil sie nie jemanden anderen außer Jessi so nah an sich herankommen lassen hatte, dass sie sich in der Form mitgeteilt hatte. Außer bei ihm und ihre Beziehung hatte jetzt eine neue Ebene erreicht.

„Wenn wir uns streiten, wer sagt mir, dass ich zu verkopft bin oder was ich falschgemacht hab? Du kannst es mir nicht sagen, weil du dann selbst wütend bist, und Jessi ist nicht da, um das zu übernehmen. Ich hab gedacht, sie hat es verarbeitet. Aber das hatte sie nicht. Es war doch nicht ihre Schuld. Nicht allein. Wir hatten alle Schuld. Trotzdem ist sie daran zerbrochen. Und ich konnte es nicht aufhalten und jetzt bin ich ohne sie. Ohne ihr Lachen, ohne ihre klugen Worte, ohne Jessi. Du kannst sie nicht ersetzen."

Zahllose Fragen schossen wie wild durch seinen Kopf. Was war passiert? Was wollte sie andeuten? Wobei haben sie alle Schuld? Wer waren alle? Was war Jessis Schicksal vorausgegangen? Doch er stellte keine. Er musste die junge Frau vor sich stützen, denn Leonie zitterte am ganzen Körper, während sie seit langem wieder ihrem Schmerz erlag. Ihre Nägel bohrten sich wie in der Nacht ihres Kennenlernens in seine Schultern, da sie unterbewusst nach Halt suchte.

Er kannte dieses Gefühl, unterzugehen. Darum hatte er sich immer verzogen. Er hatte keinen neben sich gewollt, der ihm vermeintlich Rückendeckung gab und ihn dann doch verlassen würde. Aber Leonie war anders, auch, wenn sie dachte, sie wäre ebenso. Er hob sie auf die Arme und trug sie nach drinnen, als er spürte, dass ihr Körper in sich zusammensacken wollte, angesichts des Sturms, der sie umfangen hielt.

Er wusste nicht, wie er sie beruhigen sollte. Denn sie hatte Recht. Er war zu wenig für Leonie. Sie hatte gelernt, dass sie sich wenigstens mit Jessi austauschen konnte über alles, was sie betroffen gemacht hatte. Wenn er sie aber verletzte, mit wem sollte sie dann reden? Wie sollten sie das handhaben? Daran hatte er noch gar nicht gedacht. Leonie war es jedoch offensichtlich bewusst geworden, als sie in der Küche gesessen und auf ihren Teller gestarrt hatte. Ihre Schluchzer wurden weniger. Das war gut.

„Niemand wird Jessi ersetzen können. Niemals. Wie soll das gehen?", schniefte sie und er zuckte automatisch mit den Schultern.

„Ich weiß nicht. Aber irgendwie wird es gehen. Tut es immer."

„Dann wird es leichter? Ich werde vergessen, dass sie der wichtigste Mensch in meinem Leben war?"

„Nein. Das wirst du nicht vergessen. Aber du wirst Wege finden, zu kompensieren, dass sie nicht mehr da ist. Vielleicht findest du eine andere Freundin, mit der du dich über mich austauschen kannst."

Er setzte absichtlich ein Lächeln auf und gab seiner Stimme einen vergnügten Klang, um ihr zu verdeutlichen, dass alles gutwerden würde. Nach einer Weile. Irgendwann. Doch daran, dass Leonie wieder mehr schluchzte, erkannte er, dass seine Worte falsch gewesen waren.

„Ich will keine andere Freundin! Ich will Jessi!", rief sie aus und erzitterte in einem neuen Sturm.

„Ich weiß. Aber sie ist weg, Leonie. Egal, wie sehr du dir wünscht, sie wäre noch da. Sie ist nur noch in deiner Erinnerung da."

„Ich wünschte, ich wäre gefahren! Dann würde sie jetzt noch leben! Sie war immer die Stärkere, sie hat mich doch immer aufgebaut, wenn ich mich zurückziehen wollte. Ich kann so etwas nicht. Darum hat sie es nicht verarbeiten können. Ich hätte fahren sollen, dann wär ich auch fertig gewesen, aber Jessi hätte mich aufgefangen und sie wäre jetzt noch hier."

‚Ein Autounfall?', rätselte er und strich ihr weiter beruhigend über den Rücken.

Er würde es erfahren, dessen war er sich sicher. Irgendwann würde Leonie in der Verfassung sein, darüber zu reden, was geschehen war. Was Jessi so aus der Bahn geworfen hatte, dass sie sich nicht mehr hatte aus der Dunkelheit befreien können. Doch jetzt musste er seine Freundin irgendwie beruhigen. War der richtige Weg nachzufragen? Oder sollte er das lieber lassen? Er hasste es, falls Leute nachfragten, wenn er nicht in der Stimmung war, Fragen zu beantworten.

„Was ist passiert, Leonie? Warum ist Jessi krank geworden?", fragte er und merkte, wie sie erstarrte.

‚Scheiße. Wieso kannst du deine Klappe nicht halten?', schimpfte er sich und spürte, wie seine Freundin ihn anstarrte.

Ihre Karamell-Mokka-Augen waren vor Schreck trocken geworden, erkannte er und überlegte, wie er sich aus der Affäre ziehen konnte. Er sollte ihr sagen, dass sie die Frage nicht beantworten musste. Aber er konnte nicht. Er hatte das Gefühl, dass die Antwort wichtig war. Damit er begriff, wieso Leonie so verbissen an ihren Schuldgefühlen festhielt. Instinktiv spürte er, dass sie sich schon dafür die Schuld gab, dass ihre Freundin überhaupt erkrankt war. Darum konnte bisher nichts sie davon abbringen, dass sie keine Verantwortung dafür trug, Jessi verloren zu haben.

„Wir haben Menschenleben auf dem Gewissen", flüsterte sie plötzlich und starrte ihn so eindringlich an, dass ihm ganz übel wurde.

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NachbebenWhere stories live. Discover now