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Als er aus dem Bad kam, saß Leonie am Tisch in der Küche und starrte das Kuvert an, das sie in den Händen hielt. Er kam näher und erkannte, dass es der Abschiedsbrief war, den Jessi ihrer Freundin hinterlassen hatte.

Leonie hatte die Lasche geöffnet, aber jetzt schaute sie den Umschlag unschlüssig an. Er merkte, dass ihre Finger zitterten, also ging er nur still vor ihr in die Hocke und legte eine Hand auf ihren Oberschenkel.

Sofort flog ihr Blick zu ihm und er bemerkte den inneren Aufruhr, der sie beschäftigte in ihren Karamell-Augen mit Mokkaeinschuss.

„Ich kann ihn nicht lesen", flüsterte sie und er nickte.

„Ich weiß. Wovor hast du Angst? Was denkst du, steht drin, das dich in Panik versetzt?"

„Sie könnte mir geschrieben haben, was ich falsch gemacht habe. Warum ich sie nicht retten konnte. Ich weiß doch schon, dass ich versagt hab. Aber ich hab keine Ahnung, ob ich nicht komplett zusammenbreche, wenn ich es schwarz auf weiß lese."

„Hm. Glaubst du wirklich, dass sie dir das hinterlassen würde?"

„Keine Ahnung. Ich weiß schon lange nicht mehr, was ich denken soll. Ich dachte, sie wäre auf dem Weg der Besserung. Gut, in der Nacht zuvor, da ist sie völlig durch den Wind gewesen, ich hab sie kaum beruhigen können. Deswegen wollte ich nicht zur Uni."

Da Leonie jetzt leise zu weinen begann, ließ er sich einfach auf den Boden plumpsen und zog sie auf seinen Schoß. Er wusste, wie sie sich fühlte. Mehr, als ihr bewusst war und darüber zerbrach er sich immer öfter den Kopf. Er streichelte durch ihr noch feuchtes Haar, weil sie vor ihm unter der Dusche gewesen war, und zwang sich, seine Aufmerksamkeit bei Leonie zu lassen.

Er hörte: „Aber das war nicht die erste Nacht, in der sie völlig fertig war, und sie hat sich jedes Mal in den Griff bekommen. Darum hab ich mich überreden lassen, doch zu gehen. Das war ein Fehler. Ich hab es nicht richtig eingeschätzt."

„Man kann in keinen Menschen hineinschauen."

„Das ist keine Entschuldigung. Nicht für mich. Ich hab sie seit meinem siebten Lebensjahr gekannt. Ich hätte den Unterschied merken müssen."

„Ich denke, es ist egal, wie lange man jemanden kennt und wie vertraut man ist, diese Krankheit spiegelt gerne falsche Tatsachen vor."

Er hörte, wie rau seine Stimme klang und hoffte wirklich, dass es seine Freundin nicht bemerkte. Er wusste nicht, ob er seine neuesten Erkenntnisse schon teilen wollte. Doch er merkte, wie sich sein Bauchgrimmen verstärkte.

„Woher willst du das wissen, hm?"

„Ich weiß es einfach, Leonie. Jetzt weiß ich es."

„Du hast absolut keine Ahnung davon, wie ich mich fühle."

„Du irrst dich! Ich weiß, verdammt nochmal genau, wie du dich fühlst!", fuhr er auf, als sein Kopf anfing schmerzhaft zu pochen.

Er schluckte, als sie ihn fassungslos anstarrte. Da sich seine Brust jetzt schmerzhaft zusammenzog und er Leonies Nähe gerade nicht ertragen konnte, schob er sie von seinem Schoß. Schnell erhob er sich und wandte sich ab, indem er vorgab, Kaffee zu machen.

Leonies Blick bohrte sich unterdessen in seinen Rücken. Er brannte ein Loch hinein. Fast konnte er die angesengte Haut riechen, während er sich fragte, wieso er nicht die Klappe halten konnte. Er hatte sich doch vorgenommen, nie über seine Kindheit zu sprechen! Er hasste die Blicke, die ihm dann zugeworfen wurden.

Er hörte, wie Leonie seufzte und merkte kurz darauf, wie sie neben ihm stand und Wasser in den Wasserkocher füllte, um sich ihren Morgentee zu kochen. Kein Wort drang über ihre Lippen und als er ihr einen Seitenblick zuwarf, fragte er sich, ob sie beleidigt war. Doch sie wirkte nicht so. Als sich ihre Blicke trafen, las er die Fragen in ihren Karamell-Mokka-Augen, aber sie schwieg.

Stattdessen holte sie Teller und stellte sie auf den kleinen Tisch, der sich den Platz hier mit zwei Stühlen, der Küchenzeile und dem Kühlschrank teilte. In ihm hallte die Anweisung, dass er es ihr erzählen sollte, aber er weigerte sich strikt dagegen. Er wollte sich nicht mehr damit befassen. Es hatte so lange gedauert, bis er das, was ihm immer alle gesagt hatten, auch verinnerlicht hatte. Und dann nochmal ewig, bis er sich getraut hatte, jemanden in sein Leben zu lassen, der wirklich wichtig war. Für den er wirklich tiefe Gefühle hatte. Das hatte sich in der letzten Nacht noch bestätigt.

Selbst, wenn Leonie heute Morgen festgestellt hätte, es wäre nur ein Ausrutscher gewesen, würde er sich wohl zeit seines Lebens daran erinnern. Er hatte gespürt, wie die letzten Stücke seines brüchigen Panzers um sein Herz endgültig zerfallen waren. Das war ihm wirklich noch nie passiert. Er hatte es nicht zulassen können.

Doch ihre Karamell-Augen mit Mokka-Einschuss hatten sich so eindringlich in sein stinknormales Braun gebohrt, während sein Herz Adrenalin und Endorphine durch seine Gefäße gepumpt hatte. Alles und nichts hatte in diesen Momenten gezählt. Er hatte sich komplett bei Leonie verloren. In dem Strahlen ihrer wunderschönen Augen, für das ihr Tun der Auslöser gewesen war.

Niemals hatte eine Frau ihn so berührt. Klar, Sex hatte Spaß gemacht, das war ja wohl logisch, doch nie hatte er sich jemandem so nahe gefühlt. Nicht mal dem Mädchen, mit dem er seine ersten unbeholfenen Versuche erlebt hatte. Er hatte gedacht, er hätte sie wirklich gemocht. Aber das war nicht richtig gewesen. Leonie mochte er.

‚Und das wird dir auf die Füße fallen', schrie es in ihm und er schüttelte automatisch den Kopf, was ihm einen verwirrten Blick von seiner Freundin einbrachte.

Er wich ihrem Blick aus. Gerade konnte er ihm noch nicht standhalten. Da schwirrten zu viele Gedanken in ihm herum. Doch plötzlich - genau in dem Moment als sie neben ihm stand und er die frische Süße ihres Duschgels erhaschte, erkannte er: Er wollte sich nicht mehr verstecken. Er wollte Leonie.

Sie warf ihm ein kleines Lächeln zu und er war sich sicher: Er wollte mit ihr durch diese Zeit gehen und sehen, was sich daraus entwickeln würde. Den Wunsch hatte er noch nie gehabt und es fühlte sich einfach zu gut an. Zu richtig. Konnte er wieder verletzt werden? Logisch! Aber zum ersten Mal überwog die Pro-Seite. Er wollte das Risiko eingehen. Weil diese junge Frau vor ihm nichts verlangte und den Tisch gedeckt hatte, als hätte er nicht tausende Fragen aufgeworfen. Die er weiterhin über ihrem Kopf schweben sah.

Ehe er sich zurückhalten konnte, flüsterte er: „Meine Mutter hat sich auch umgebracht, Leonie."

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NachbebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt