Kapitel 5

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»Du trägst also eine Brille?«, fragte Nivia, als sie sich in Bewegung setzten und zu Haru aufschlossen. Ein schweigsamer Weg unter Fremden würde den langen Weg zu ihrer Mutter nur noch unangenehmer machen. Was war also schon dabei, wenn sie die anderen etwas besser kennenlernen würde?

Neben ihr versteifte sich Tidus auf die Frage hin, als wäre er zu einer Eisskulptur erstarrt.

»Tidus?«

Er blinzelte und wandte sich Nivia zu. »Was hast du gesagt?«

»Deine Brille«, wiederholte sie und deutete auf seine Hosentasche. »Seit wann trägst du sie?«

Tidus' Lippen wurden schmal, als er das Etui aus seiner Tasche zog und die Brille herausholte. »Schon immer eigentlich. Nur verliert sie langsam ihre Farbe«, antworte er schließlich und fuhr mit dem Daumen über das dunkle Gestell.

»Aber jetzt brauchst du sie nicht?«

Mit zusammengezogenen Augenbrauen schüttelte er den Kopf und machte einen großen Schritt, den Nivia mit einem Satz aufholte.

»Ich finde, sie steht dir«, versuchte sie es erneut, aber erntete von Tidus nur ein genervtes Augenrollen.

»Willst du nicht darüber sprechen?«, bohrte sie weiter.

Ruckartig blieb er stehen und wirbelte zu ihr herum. »Fragst du nach ihr, weil du sie haben willst?« Seine Stimme schnitt durch die Stille und der Inhalt seiner Worte versiegelte Nivia den Mund.

»Ich ... wollte nicht...«, stammelte sie völlig überrascht von seinem Gefühlsausbruch. Seit sie ihn kannte, hatte sie ihn nie die Stimme erheben hören. »Wenn du nicht darüber reden möchtest, dann lassen wir es. Ich dachte nur, dass wir uns besser kennenlernen könnten. Es tut mir leid, falls ich dir zu nahe getreten bin. Bitte vergiss einfach, dass ich gefragt habe.«

Von der Lautstärke angelockt machte Gry kehrt. Er ließ seinen Blick zwischen den beiden hin- und hergleiten.

»Was ist denn hier los?«, fragte er. »Ärger im Paradies?«

Tidus schwieg und presste die Lippen zusammen, also war es an Nivia, die Situation zu erklären.

»Das ist doch albern«, sagte Gry schließlich und tätschelte mit seiner behandschuhten Hand den Kopf des Jungen. »Der Kleine hat sicherlich nur etwas überreagiert, nicht wahr?«

Nivia entging der leicht drohende Tonfall in seiner Stimme nicht. Ehe sie aber Partei für Tidus ergreifen konnte, meldete dieser sich zu ihrer Überraschung zu Wort.

»Es tut mir leid«, murmelte er. »Gry hat recht. Mir ist einfach nur kalt und ich kann nicht mehr klar denken.«

Er sagte nicht, dass es nicht ihre Schuld war. Dass sie nichts dafür konnte. So wie man das eben eigentlich tat. Stattdessen quälte sich ein halbes Lächeln auf sein schneeweißes Gesicht und damit musste Nivia schließlich vorliebnehmen.

»Wann haben wir eigentlich beschlossen, dass wir ihm folgen«, fragte sie, um das Thema zu wechseln und nickte unauffällig in Harus Richtung, »und weiß er überhaupt, wo wir hinwollen?«

»Tja, weißt du«, Gry zuckte mit den Achseln, »das liegt daran, dass wir das immer so machen. Haru macht immer den Anfang und wir folgen ihm wie an einer Perlenkette.« Er fuhr mit der Hand an das goldene Schmuckstück um seinen Hals. »Es ist zwar keine aus Perlen, aber du weißt sicherlich, was ich meine. Erst –«

»Gry!« Harsch unterbrach Haru ihn. »Komm mal her!«

Der Angesprochene warf Nivia einen gespielten und völlig übertriebenen Blick voller Angst zu, in dem er die Augen kastaniengroß aufriss. Dann lachte er und schloss zu Haru auf, der ihn direkt mit einem Schlag an den Hinterkopf begrüßte, welcher ihn drei Schritte vorstolpern ließ.

Herz aus EisWhere stories live. Discover now