Kapitel 12

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Als Nivias Licht endgültig erlosch und nichts mehr von ihr übrig war, sie sich vollständig zu Eiskristallen aufgelöst und der Wind sie in alle Richtungen davongetragen hatte, schnappte Haru sich das Einzige, was sie ihm von sich dagelassen hatte, ihre Krone, und machte sich auf den langen Weg, sein Ziel zu erreichen.

Das Ende von Nivias Ära bedeutete auch, dass das Wissen, wo sich dieses Ziel in naher Zukunft befinden würde, in seinem Gedächtnis erblühte. Es war bedauerlich, dass sie nun nicht mehr erfahren würde, dass seine Ziellosigkeit ein jähes Ende gefunden hatte und dass er nun wusste, wohin ihn sein Herz führte. Denn unter keinen Umständen wollte er die Verabredung mit seiner Mutter verpassen.

Ein letztes Mal ließ er den Blick durch den Wald gleiten und sog die friedvolle Stimmung in sich auf. Kein Leben und keine Farben weit und breit, nur er, der noch Spuren im Weiß hinterließ. Bald würde das Eis endgültig aufgetaut sein und neues Leben würde darunter erblühen, bis auch seine Zeit gekommen war, die Krone weiterzureichen.

Doch noch wollte er nicht daran denken. Noch genoss er die wärmende Sonne auf seiner Haut und das auch ihre Kraft nun so weit gestärkt war, dass sie ihm unterstützende Hilfe leistete und den Schnee unter seinen Füßen schmolz – bis auch sie ihn hintergehen würde.

Schon jetzt erwachte der Wald zu neuem Leben. Die Schneeglöckchen – er seufzte, während seine Hand behutsam über das zarte Gewächs strich – die Schneeglöckchen und Krokusse würden den Anfang machen.

Später würden dann Blütenteppiche aus Scharbockskraut und Buschwindröschen den Waldboden bedecken.

Das Summen und Brummen der Insekten würde lauter werden; die Zugvögel aus dem Süden zurückkehren und mit dem Brutgeschäft anfangen.

Kröten würden ihre Wanderung beginnen und mit Fröschen in Teichen und Seen für Nachwuchs sorgen.

Die ersten Frischlinge würden ein paar Tage im Nest vor der letzten Kälte geschützt bei ihrer Mutter bleiben und dann den Wald erkunden, ehe die Winterschläfer verschlafen ihre Köpfe aus Höhlen, Unterholz und Bäumen stecken würden.

Schon bald würde eine neue Generation das Licht der Welt erblicken, sie besiedeln und von der Natur nehmen, was sie zu geben hatte.

Und während er einen letzten Moment das genoss, was Nivia geschaffen hatte, zog etwas an der Stelle seine Aufmerksamkeit auf sich, wo sie friedlich in seinen Armen gelegen hatte und eins mit der Natur wurde.

Mit einem Lächeln nahm er Tidus' Brillenetui an sich und sammelte auch seine Maske wieder auf, die matschige Spuren des Kampfes trug. Wieder einmal hatte sie ihm zum Sieg verholfen, die Maske, eine Intrige seiner selbst. Und trotzdem würde seine Freude nur von kurzer Dauer sein, also musste er seinen Erfolg genießen.

Mit jedem Tag würde er mehr vergessen. Würde vergessen, wer er war und was gewesen ist. Würde vergessen, wer seine Freunde waren und dass er sie nicht zum letzten Mal gesehen hatte. Ebenso wie das Spiel, das sich Mutter Natur ausgedacht hatte und das sie gezwungen waren zu spielen. So waren die Regeln nun mal und er hielt sich an die Regeln. Meistens.

Doch solange seine Erinnerungen noch frisch und unverfälscht waren, wollte er Abschied nehmen. Abschied nehmen von seinen Weggefährten – seinen Freunden –, die ihm in naher Zukunft versuchen würden zu überlisten, zu betrügen und zu hintergehen.

Er wusste es.

Alles.

Er wusste, was auf ihn zukommen würde.

Und dennoch freute er sich auf ein Wiedersehen mit ihnen, bis auch seine Erinnerungen nichts weiter als dunkle Leere sein würden und er sich ausschließlich nur noch an sein Ziel und an seinen Namen erinnern würde.

Wenn Tidus so weit war und sich ihm entgegenstellte, dann würden seine Erinnerungen zurückkommen und er würde zumindest für einen letzten Augenblick seine Gedanken mit ihm teilen können, so wie Nivia es mit ihm getan hatte und es jedes Jahr aufs Neue tat. Immer und immer wieder.

Er drapierte seine Maske geschützt unter einem Baum und legte das Brillenetui und Grys Kette daneben. Er bedauerte es sehr, wie vermutlich all die Male zuvor, dass er keine Andenken behalten durfte, doch immerhin blieb ihm noch die Krone. Da er nichts weiter von Nivia hatte, außer diese, legte er symbolisch das Schneeglöckchen dazu, um sich auch von ihr zu verabschieden.

Für einen kurzen Moment dachte er an die letzten drei Monate und an seine Freunde zurück. Es war wie immer eine turbulente Zeit gewesen, jedoch wollte er keinen Moment davon missen. Das Gegenteil war eher der Fall. Manchmal wünschte er sich, sie hätten mehr Zeit zusammen, nicht nur diesen kurzen Moment, in dem der Kronenträger die Wahrheit erkennt und bei vollem Bewusstsein ist.

Ein einziger Tag würde ihm reichen.

Doch es gab nur diesen einen kurzen Augenblick, an dem sie alle zum selben Zeitpunkt sie selbst waren und die gleichen Erinnerungen miteinander teilten.

Trotzdem nahm er, was er kriegen konnte und würde diese kleinen Momente in Ehren halten, in denen sie zusammen gelacht, gestritten oder gelitten hatten.

»Macht es gut. Ich bin bereit und werde auf euch warten«, flüsterte Haru in den Wind und krönte sich selbst zum Herrscher, indem er sich in einer einzigen fließenden Bewegung die Krone auf den Kopf setzte.

Kaum hatte sie sein Haupt berührt, begann sie auch schon damit, ihren Wandel zu vollziehen. Das Silber begann zu glühen und verflüssigte sich zu einer pechähnlichen Substanz, die es sich erlaubte, ihre Form zu verändern. Die Eiskristalle, die von Nivias Herrschaft zeugten, verformten sich zu kleinen Ranken und mündeten in vereinzelten Blättern und Knospen.

Seine Gedanken und Erinnerungen sammelten sich an einem zentralen Punkt seines Unterbewusstseins und begaben sich dort zur Ruh.

Das Glühen auf seinem Haupt erlosch und ließ die Krone mit einem letzten Funken golden erstrahlen.

Der Frühling war da.

Herz aus EisTahanan ng mga kuwento. Tumuklas ngayon