Kapitel 6

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Bis eine Schneeflocke ihr sicheres Nest verlässt und ihre Reise des freien Falls antrtitt, um sich schließlich auf dem Boden der Welt zur Ruh zu begeben, vergeht meist eine halbe Ewigkeit.

Diese zerbrechliche Unendlichkeit brauchte Nivia, um zu begreifen, was geschehen war. Wortlos starrte sie auf das Etui in ihren Händen. Kleine Schmetterlinge tanzten darauf um ein paar Blumen herum, tranken ihren Nektar und verschwammen unter dem Schleier ihrer Augen.

Mit dem Daumen fuhr sie immer wieder über den goldenen Verschluss des Schatzes in ihrer Hand, bis der Nebel ihr vollkommen die Sicht nahm. Ihre Augen waren ein überlaufendes Meer der Tränen, ehe sie über den Abgrund stürzten.

Mit einem leisen Klicken sprang die Spange des Brillenetuis zur Seite und der Deckel öffnete sich. Als Nivia den Inhalt betrachtete, blinzelte sie irritiert. Stand sie etwa noch immer neben sich, sodass ihre Tränen ihr ein Bild der Täuschung offenbarten?

Mit dem Handrücken wischte sie über ihre verquollenen Augen. Das, was sie in ihren Händen trug, war noch immer dasselbe, doch etwas hatte sich verändert.

Mit zittrigen Fingern nahm Nivia das Gestell in die Hand und wendete es unter ihren verwunderten Augen. Es war nicht länger schwarz, sondern hell, fast schon pastellfarben und erinnerte sie an die Farbe ihrer Augen. Die Gläser glichen nicht mehr gefrorenem Eis, das sich über Bäche und Seen legte, sondern waren dunkel wie die Nächte, die sie alleine im Wald verbracht hatte.

»Hat er es endlich geschafft?«

Wie ein drohendes Unheil stand Haru über ihr und deutete mit einem Nicken auf ihren Schoß. Obwohl er meistens von leisem Summen begleitet wurde, hatte Nivia ihn nicht kommen hören und einmal mehr fragte sie sich, ob ihre Sinne ein gefährliches Spiel mit ihr spielten.

Einen Augenblick musterte sie ihn scheinbar zu lange, denn er räusperte sich und wiederholte unaufgefordert seine Frage. »Hat Tidus es endlich geschafft?«

Die Leere in Nivias Herzen mischte sich mit völligem Unverständnis. »Geschafft?«, fragte sie. Ihre Stimme war nur ein leises Krächzen, taub und lahm von all den Gefühlen, die auf sie niederprasselten. »Was soll er geschafft haben?«

Haru verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf das andere und verschränkte die Arme vor der Brust, ehe er zu einer Antwort ansetzte. »Zu sterben?«

Frei von jeglichen Gedanken starrte Nivia ihn an. »Zu sterben?«, wiederholte sie seine Worte monoton, bis eine Erkenntnis sie traf. Ihre Hände schlossen sich fester um das Etui, dann stand sie auf. »Du wusstest es? Du wusstest, dass er sterben wird und hast nichts dagegen unternommen?« Fassungslos konnte sie den Blick nicht von ihm abwenden, doch die Maske auf Harus Gesicht verdeckte jegliche Mimik und erschwerte es ihr, ihn zu lesen.

»Das ist nicht der richtige Zeitpunkt für Schuldzuweisungen, Niv. Tu doch nicht so, als hättest du es nicht gewusst.« Haru schnalzte genervt mit der Zunge. »Er hat es doch jedem erzählt, ist völlig offen damit umgegangen. Warum hast du ihm dann nicht geholfen? Sag es mir, wenn du über Schuld sprechen möchtest.«

Nivias Herz stolperte in ihrer Brust; sie taumelte drei Schritte zurück. Sie wusste es. Tidus hatte es ihr versucht zu sagen. »Ich ...«

»Weil du ihm nicht geglaubt hast?«, riet Haru. »Weil du es nicht gesehen hast? Weil du nur mit dir selbst beschäftigt warst? Weil –«

»Hör auf!«, schrie Nivia. Sie wollte es nicht mehr hören, konnte es nicht mehr ertragen. Jedes seiner Worte entsprach der Wahrheit und stach in ihr Herz.

Haru schnaubte. »Du kannst versuchen, mir den Mund zu verbieten und vor der Wahrheit davonlaufen. Das alles ändert aber nichts daran, dass auch du jetzt eine Schuld auf deinen Schultern trägst. Du bist ein Teil des Problems.«

Herz aus EisWhere stories live. Discover now