32. Kapitel

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Ich schlafe erst nach zwei Uhr ein und werde vom Klingeln des Weckers geweckt. Mit einem Brummen mache ich ihn aus und drehe mich auf die andere Seite.

Ich spitze die Ohren und höre meine Mutter unten klappern. Dem Geräusch nach zu urteilen, räumt sie den Geschirrspüler aus. Ich weiß, dass ich aufstehen sollte, aber ich werde mir heute einen freien Tag gönnen. Nicht, dass mir das zu irgendwas verhilft, wahrscheinlich hassen mich die Lehrer nur noch mehr. Aber im Moment ist mir das ziemlich egal.

Die Tür fällt ein paar Minuten später ins Schloss. Meine Mum ist weg. Es ist still. Jetzt bekommt keiner mit, dass ich mich noch im Haus aufhalte. Ich ziehe mir die Decke bis zur Brust und mache die Augen noch einmal zu.

Als ich das nächste Mal aufwache, scheint die Sonne hell in mein Zimmer und ich stecke meinen Kopf noch tiefer unter die Decke.

Ich weiß, dass die Schule längst begonnen hat, und ich mache mir nicht mehr die Mühe aufzustehen. Es ist sowieso schon längst zu spät, hinzufahren.

Nach einem langen hin und her, ob ich aufstehen, oder doch liegenbleiben soll, setze ich mich im Bett auf und gähne. Mein Handy zeigt fünf ungelesene Nachrichten. Alle sind von Florentine.

Ich denke, sie hat meine Abfuhr gestern einfach gar nicht verstanden. Ich frage mich zwar, was man an meinen klaren Wörtern nicht verstehen kann, aber Florentine ist einfach ein seltsamer Fall. Ich will auch gar nicht weiter über sie nachdenken. Schnell wische ich die Nachrichten weg und schwinge die Beine aus dem Bett.

Ich stehe auf und gehe die Treppe hinunter. Da keiner sonst zu Hause ist, lasse ich mein Schlafgewand an, das aus einem weißen, kurzen T-Shirt besteht und meiner Boxershorts. Ich nehme mir ein Müsli und Kaffee. Mit den beiden Tassen setze ich mich zum Küchentisch.

Danach ist mir so langweilig, dass ich mich sogar kurz verfluche, dass ich nicht in die Schule gegangen bin. Vielleicht wäre dort mehr passiert als hier.

Ich beginne mein Handy nach Fotos zu durchsuche. Ich finde ganz unten in meiner Galerie auch Bilder mit meinem Vater. Es war vor drei Jahren und er hat den Arm um mich gelegt und lacht über mein ängstliches Gesicht. Das war, kurz bevor wir mit der Achterbahn in die Tiefe gestürzt sind. Ein paar Minuten später saßen wir in einem Wagen und ich habe mit aller Kraft versucht, mich nicht zu übergeben. Ich muss kurz grinsen, als ich daran denke.

Mein Dad liebte Achterbahnen, je schneller und gefährlicher, desto besser. Wahnsinn, wie jung er da noch aussieht. Und wie gesund.

Ich muss schlucken, als ich sein Gesicht aus der Nähe betrachte. Wir haben schon Ähnlichkeit. Wir hatten Ähnlichkeit. Ich habe seine Gesichtszüge und seine Augen.

Bevor ich noch anfange zu heulen wechsle ich auf WhatsApp. Ich klicke auf Tylers Profil und begutachte sein Foto. Er ist von der Seite zu sehen. Und er lächelt. Ganz automatisch verziehen sich auch meine Mundwinkel zu einem Lächeln. Ich streiche über sein Gesicht, das komplett unter meinem Zeigefinger verschwindet.

In diesem Moment ertönt draußen ein Hupen eines Autos und vor Schreck tippt mein Finger auf das Bild. Ich drehe mich zu Fenster, kann aber keinen sehen. Unter meinen Fingern ertönt ein Geräusch und ich richte meinen Blick auf das Handy vor mir. Auf das Handy, das eben einen Anruf gestartet hat.

Oh mein Gott. Wieso kann ich nicht aufpassen? Wenn ich jetzt wieder auf „Beenden" drücke, kommt es genauso blöd, wie wenn er jetzt abnimmt. Was soll ich denn sagen? Ich weiß es nicht. Doch zu meinem Glück läutet und läutet es, bis die Mailbox sich meldet. Ich atme erleichtert aus.

Ich weiß nicht einmal, was mich mehr erfreut hätte. Wenn er abgehoben, oder einfach gar nichts gemacht hätte. Ich frage mich, seit wann ich selbst so zwiegespalten bin. Seit ich Tyler kenne? Oder war ich davor auch schon so? Ich habe keine Antwort auf die Frage.

Es ist kurz vor zehn Uhr, als ich mir einen Film anmache und mich auf die Couch in ein Kissen kuschle. So richtig kann ich aber der Handlung nicht folgen. Immer wieder huschen meine Gedanken zu Tyler.

Ich würde ja gern behaupten, dass ich mein Handy abgeschaltet habe und nicht auf seinen Rückruf warte, aber die traurige Realität lässt mich mein Handy neben mir liegen, auf laut, damit ich nichts verpassen kann.

Nachdem ich den Film fast geschafft habe, meldet sich mein Handy. Fast panisch greife ich danach. Doch es ist nur Lenny, der mir die Note vom Mathe-Test schreibt. Es ist eine zwei minus. Ich werde noch zu einem Musterschüler! Ich schreibe ein „Danke" zurück und lege mein Handy wieder beiseite.

Meine Mum schickt mir kurz darauf eine Nachricht, ob ich, wenn ich zu Hause bin, kochen könnte, denn sie trifft sich noch mit Georg. Ich verdrehe die Augen. Als würden wir am Freitag nicht zusammen für ein paar Tage wegfahren. Sie hat das Verhalten eines zwölf-jährigen Mädchens.

Ich raffe mich auf und sehe im Kühlschrank nach, was wir überhaupt dahaben. Ich entscheide mich für Palatschinken, weil ich das Rezept auswendig kenne und meine Mama, die auch mag.

Ich mische den Teig zusammen und gebe Öl in die Pfanne. Dann heize ich die Platte auf. Als die Pfanne heiß genug ist, gebe ich den ersten Löffel Teig hinein. Mein Handy liegt auf der Kochfläche, etwa zwei Meter entfernt von mir.

Es zischt und raucht kurz und der Teig verteilt sich in der Pfanne. Als mein Handy zu läuten beginnt, bin ich zuerst abgelenkt vom Teig in der Pfanne. Doch als ich dann aber das Bild von Tyler sehe, sprinte ich hin.

Kurz bevor ich auf „Annehmen" drücke, atme ich einmal durch. Man muss ja nicht gleich hören, dass ich total außer Atem bin. Ich denke, Tyler schafft es, dass er die Aufregung durch den Lautsprecher hindurchhören wird. Ich muss mich zusammenreißen.

Ich sollte wirklich versuchen ganz cool abzuheben und so tun, als hätte ich mich verdrückt. Schließlich ist es die Wahrheit. Und genau das werde ich ihm sagen. Ich wollte ihn nicht anrufen, ich war abgelenkt. Und abgelenkte Menschen tun oft Dinge, die sie danach zurücknehmen wollen.

Ich werde ihm bestimmt nicht erklären, dass es mich wahnsinnig stört, dass er mir zuerst schreibt und wissen möchte, wie es mir geht. Und ich ihm dann so egal bin, dass er nichts mehr auf meine Nachrichten antworten kann. Ein bisschen Würde werde ich ja wohl noch haben.

Ich atme noch einmal durch. Dann drücke ich auf den grünen Knopf und halte das Handy an mein Ohr. 

Hinter verschlossenen Türen [boyxboy]Where stories live. Discover now