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Ich saß im Wohnzimmer und kaute auf meinen Nägeln herum.
Sogar das musste ich heimlich machen.
In der Jugendhilfe hatte es niemanden gejuckt, nicht mal wenn man sich geritzt hatte oder so.
Was ich nie getan hatte.
Immer nur Nagel kauen wie ein kleines Kind.
Und im Kopf war ich das irgendwie auch.
Ein kleines drogenabhängiges Kind.
Ich heulte bei jeder Scheiße.
Wurde zu schnell aggressiv.
Wenn ich nicht bekam, was ich wollte zum Beispiel.
Dabei handelte es sich meistens um Drogen. Oder Geld.
Ich schaute auf meine Finger.
Drei von zehn bluteten schon.
Ich seufzte und lehnte mich zurück.
"Altan?", ein PED lugte herein.
"Was?", genervt sah ich ihn an.
"Dein Erziehungsbeistand ist da, er will dich auf dein Elterngespräch vorbereiten."
Ich seufzte.
"Schicken Sie ihn rein."
Die Tür öffnete sich, Fabian kam rein und schloss die Tür hinter sich.
"Ganz schön ruhig", brach er das Schweigen.
Ich zuckte mit den Schultern.
"Die haben alle Schule oder AT."
"Ach so."
"Tut mir Leid, dass ich dich nicht besucht habe, als du noch auf der Intensivstation gelegen bist."
Ich zuckte noch Mal mit den Schultern.
"Is' halt so."
"Hast du Angst?"
Ich sah auf den Boden und nickte.
Wegen meinen Eltern war ich überhaupt so geworden, aber ich hatte niemandem von dem Vorfall erzählt.
"Das Gespräch ist in zehn Minuten, deine Eltern sind schon da. Ich werde nicht dabei sein."
"Hab ich dir nicht grade gesagt, dass ich Angst habe?", fragte ich verzweifelt.
"Ich weiß, dass du das durchhälst. Ich kenne dich, seit du dreizehn bist."
Ich schluckte.
Wenn er das sagte.
Aber ich hatte immer noch Angst vor meinem Vater.
Angst, dass er mich schlagen würde oder so.
Oder so, das war leichter gesagt als das, was letztendlich passiert war.
"Los", sagte Florian leise.
Den Blick auf den Boden gerichtet ging ich ihm nach.
Jetzt abhauen, das wär's doch.
Aber ich wollte nicht noch mehr Leute enttäuschen.
Also ging ich die Treppen nach oben, durch zwei Türen bis zum Büro meines fallführenden Psychologen.
Ich sah nur die Füße meiner Eltern und wollte schon raus rennen.
"Schau mir gefälligst in die Augen", fuhr mich mein Vater an und ich schaute ihn an.
Und gleich wieder weg.
"Sie sollten nicht so streng mit ihm sein. Er hat einen Suizidversuch hinter sich, das ist hart."
Ich seufzte.
Wenigstens einer in diesem Raum war auf meiner Seite.
Ich atmete tief durch.
Das würde ich schon irgendwie aushalten.
"Wie geht's ihm denn?", fragte er und schaute Herr Schmidt an.
"Warum fragen Sie ihn das nicht selbst?"
"Weil er mich sowieso anlügen würde."
Ich setzte an, etwas zu sagen, aber er gab mir einen Todesblick und ich machte meinen Mund sofort wieder zu.
"Ich ertrage es einfach nicht, mein Kind so zu sehen", murmelte er.
Das meinte er offensichtlich nicht ernst, aber mein Psychologe schien ihm zu glauben.
"Er sagt einfach nie, was los ist und was nicht stimmt."
Jetzt brannten bei mir alle Sicherungen durch.
Ich stand auf.
"Das ist jetzt nicht dein Ernst, du hasst mich! Du hast mich jahrelang geschlagen und verge-"
Er war noch schneller aufgestanden als ich eben und seine Hand klatschte auf meine Wange.
Ich stöhnte vor Schmerz auf und hielt meine Wange.
"Raus, alle beide. Sofort. Oder ich rufe die Polizei", sagte Herr Schmidt, der gerade 10 Sekunden in Schockstarre verbracht hatte.
"Wenn Sie Hilfe brauchen, rufen Sie eine Hotline für häusliche Gewalt an. Tun Sie mir den Gefallen", raunte er meiner Mutter zu.
Dann wandte er sich wieder zu mir.
"Altan, ich glaube wir sind fertig. Ruh' dich aus. Und denk nicht zu viel nach, ich glaube ich habe verstanden, was das Problem ist."
Mit wackeligen Knien stand ich auf und folgte ihm zurück auf Station.
Ich wollte einfach nur noch weg rennen.
Aber hier war ich wenigstens sicher.
Ich verzog mich so schnell es ging in mein Einzelzimmer.
Ich würde losheulen, wenn ich nur könnte.
Aber ich hatte als Kind wohl alle Tränen rausgeweint, die ich in mir trug.
Ich vergrub meinen Kopf in meinem Kissen und wollte gerade losschreien, als mir etwas besseres einfiel.
Ich rannte regelrecht zum Büro der PEDs und hämmerte an die Tür.
"Was ist denn? Ist was passiert?", fragte eine von ihnen alarmbereit.
"Kann ich BITTE in den Timeout?"
Sie nickte und nahm den Schlüssel.
Dann gingen wir in den Raum gegenüber und kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, schrie ich los.
"AHHHHHHH! MAAAAAANNNN WARUM ICH?"
Sie setzte sich ruhig auf den Boden, und ich schrie noch locker fünf Minuten rum.
Ich ließ mich auf den Boden fallen und vergrub mein Gesicht in meinen Händen.
"Besser?", fragte sie vorsichtig.
"Bisschen", murmelte ich, "würde noch weiter schreien aber dann gehen meine Stimmbänder kaputt oder so."
Sie nickte.
"Willst du noch hier bleiben?"
Ich schüttelte den Kopf.
"Gut."
Ich stand auf und ging ins leere Wohnzimmer.
Ein PED setzte sich neben mich.
"Alles in Ordnung?"
Angepisst schaute ich ihn an.
"Sieht's so aus?", lachte ich leise auf.
"Willst du drüber reden?"
"Heute red' ich mit niemandem mehr über meine Probleme."
"Wenn du meinst. Auch wenn du dafür hier bist. Du solltest dich öffnen."
"Ich hab' mich ausversehen geöffnet und es ist nicht gut ausgegangen."
"Okay. Dann probier's morgen oder so wieder."
Ich zuckte mit den Schultern.
Jemand kam ins Wohnzimmer.
Es war aber noch Schule, also eine Neuaufnahme.
Scheiße.
Ich blickte hoch und mein Herz blieb stehen.
"Altan?", fragte das Mädchen geschockt.
"Wer is'n Altan", murmelte ich.
Der PED schaute uns belustigt an.
"Ihr kennt euch?"
Ich nickte und schaute Kaia in die Augen.
"Altan, kannst du mir BITTE sagen, warum du mich seit zwei Jahren ghostest?"
"Kein Handy", murmelte ich.
Das war nicht mal gelogen.
"Genau, als ob DU kein Handy hast. Und warum bist du mir aus dem Weg gegangen, vor keine Ahnung wie vielen Jahren und dann hab' ich dich nie wieder gesehen?"
Ich schaute auf den Boden und beruhigte mich innerlich.
Einatmen.
Ausatmen.
"Keine Ahnung man, dummer Zufall."
"Solche Märchen kannst du dir selber erzählen, aber nicht mir!"
"Man, lass mich in Ruhe, mir geht's nicht gut!"
Ich stand auf.
"Du scheiß Wichser sagst mir jetzt sofort, was dein Problem mit mir ist!"
"NEIN! AKZEPTIERE DAS DOCH EINFACH!", platzte es aus mir raus.
Ich schubste sie ziemlich heftig und sie fiel nach hinten.
Und im selben Moment wurde ich von hinten gepackt und zappelnd raus getragen.
"Wir brauchen ein Fixierbett", sagte der PED hinter mir.
"NEIN!", schrie ich mir die Seele aus dem Leib.
"Doch, leider. So läuft das hier."
Also schnallten mich drei Leute auf dem Fixierbett fest, ich schlug um mich und schrie.
Bis ich irgendwann keine Kraft mehr hatte und einfach liegen blieb.
Gegen diese Methoden aus dem achzehnten Jahrhundert war ich machtlos.

sechs minuten und dreißig sekunden im himmelOnde histórias criam vida. Descubra agora