VI

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*

"Wollt ihr mit?"
Timo packte Massen an Pillen in seine Bauchtasche.
"Wohin?", fragte Kaia verwirrt und lächelte.
Sie hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen, aber locker zehn Kippen aus dem Fenster geraucht.
"Hausparty."
"Safe, war seit Jahren nicht mehr auf 'ner Party. Wenn Putzen im Knast mit Musik nicht mitzählt", grinste ich.
"Kommst du auch?"
Er sah zu Kaia.
Sie nickte.
"Allein bleib' ich hier nicht."
"'Kay."
Ich stand auf und wir folgten ihm.
"Die suchen uns mit'm Hubschrauber, also pass lieber auf", erinnerte mich Kaia.
Ich nickte ihr zu.
"In paar Tagen geben die sowieso auf."
Wir stiegen in sein Auto, das am Straßenrand parkte.
Kaia und ich setzten uns nebeneinander auf die Rückbank.
Er startete den Motor und fuhr los.
Wir fuhren ungefähr zwanzig Minuten in irgendein Dorf.
Hier waren auch keine Hubschrauber mehr.
Zum Glück.
Ich hatte wirklich ein bisschen Angst, eingefangen zu werden.
Kaia dagegen sollte vielleicht eingefangen werden.
Nur um ein bisschen was essen zu können.
Sie brauchte außerdem eine Therapie.
Ich nicht.
Ich war nicht mehr zu retten.
Wir stiegen aus und betraten das riesige Einfamilienhaus.
Draußen hörte man fast nichts, aber ich spürte den Bass vibrieren.
Ich sah mich um.
Es lief Hardtekk.
Hatte ich früher, so mit dreizehn gerne gehört, aber früher war ich auch auf Partydrogen und nicht auf fuckung Opioiden.
"Ist irgendwie kacke hier", murmelte Kaia.
"Ja man, die Musik macht alles kaputt."
Wir gingen die Treppen nach oben und sahen uns um.
"Ich muss echt schon wieder pissen", sagte ich und ging in das Badezimmer.
Während ich meine Blase entleerte, sah ich mich im Raum um.
Es gab ein Dachfenster, auf dessen Fensterbach ein Aschenbecher stand.
Das brachte mich auf eine Idee.
Ich schloss die Tür auf und Kaia war spurlos verschwunden.
Ich sollte sie wohl suchen.
Also ging ich die Treppe wieder nach unten und suchte das Wohnzimmer ab.
Auf der Couch saßen drei echt seltsam aussehende Typen, die die Musik - anders als die meisten Anderen - zu genießen schienen.
Aber alle Fragen klärten sich, als ich die Methpipe in der Hand des mittleren Typen sah.
Ich setzte mich auf die Couch zu ihnen und schielte auf die Pfeife.
"Willst' auch was?", fragte mich der Typ neben mir.
"Keine Ahnung... ich hab' seit zwei Jahren kein Crystal mehr geraucht. Und ich mag Downer lieber."
Ich biss auf meiner Lippe.
"Hast du echt kein' Bock?"
Ich schluckte.
"Hier ist jemand, dem das nicht gefallen würde."
Er zog die Augenbrauen hoch.
"Deine Freundin?"
"Eine Freundin."
"Dann hat sie dir nichts zu sagen."
Er blies den giftigen Rauch aus und passte die Pfeife zu mir.
"Ne, lass mal."
"Nimm nur einen Zug, Bro. Das fällt nicht auf."
Ich seufzte und nahm die Pipe in meine Hand.
Jetzt war eh alles egal.
Mein Vater würde mich sowieso nie wieder sehen.
Und Kaia war irgendwo, aber nicht hier.
Also hielt ich das Feuerzeug an das Glas und nahm einen Zug.
Dann musste ich mich erstmal fangen und stand auf.
Ich ging weiter Kaia suchen und fand sie nach einer Ewigkeit in der Küche mit einer Orange in der Hand.
"Heyyy", lächelte ich und umarmte sie.
Verwirrt schlang sie ihre Arme ebenfalls um mich.
"Hast du was genommen?", fragte sie mich.
"Ähm... also, nein."
Ich grinste sie an.
"Was machen wir?"
"Dach."
"Wie, Dach?"
"Dach."
Ich grinste wieder und zog sie nach oben.
Sie hatte immer noch die Orange in der Hand.
"Was willst du damit?", fragte ich sie.
"Weiß nicht, hab keine Watte gefunden."
"Was für Watte, hä? Watte kann man doch nicht essen."
Sie schluckte.
"Ähm... ich erklär's dir später."
"Okay?"
Ich war mehr als nur verwirrt, aber zog sie ins Bad.
"Was wollen wir hier?"
Ich machte das Dachfenster auf und kletterte auf die Fensterbank.
Sie schien immer noch nicht zu begreifen, was ich vorhatte.
"Dach", wiederholte ich also.
"Oh. Okay?"
Ich ging auf die Dachschräge und Kaia kletterte hinterher.
Wir setzten uns auf den First.
Dann kam ich gleich zum Punkt.
"Warum willst du Watte fressen, was zum Fick?"
"Macht satt. Mit Orangensaft schmeckt's besser."
"Du isst WATTE gegen den scheiß Hunger?"
Beschämt nickte sie.
"Alter, und ich dachte, ich wäre kaputt."
Sie schluckte.
"Ey, sorry, das war nicht so gemeint."
"Passt schon", wimmerte sie und brach halb zusammen.
Ich fing sie auf, sodass sie nicht vom Dach fiel und umarmte sie so fest und liebevoll, wie ich nur konnte.
Sie fing an zu weinen und ich war fucking überfordert.
Ich strich ihr die Haare aus dem Gesicht.
Sie sah zu mir hoch.
"Altan?"
Ich nickte ihr zu.
"Ich hab' dich immer noch lieb."
Ein ganz kleines Lächeln huschte über mein Gesicht.
Das hatte ich wirklich lange nicht mehr gehört.
Das letzte Mal von meinem Bruder.
Vor über fünf Jahren.
An dem Tag, an dem er beschlossen hatte, alles zu beenden.
Er hatte sich einen goldenen Schuss gesetzt.
Einfach die Spritze in den Arm und sich umgebracht.
"Ich wünschte, ich hätte es geschafft", murmelte ich und Tränen flossen meine Wangen herunter.
"Was?"
"Zu sterben."
"Was denkst du, was ich gemacht hätte, wenn ich erfahren hätte, dass du gestorben wärst?"
Ich zuckte mit den Schultern.
"Keine Ahnung. Weitergelebt wahrscheinlich."
"Nein man! Du bist mein einziger Freund... gewesen..."
Ich sah in ihre Augen.
"Und was ist mit Valerie?"
"Die hat mir nicht gut getan... gesagt, ich bin nicht dünn genug..."
"Scheiße, man. Dann lass mich dein einziger Freund sein - auch wenn ich ein scheiß Einfluss bin. Und du bist nicht dünn, da hat sie Recht. Du bist komplett abgemagert. Du siehst schlimm aus, nicht im Sinne von hässlich, sondern im Sinne von du stirbst jede Sekunde, verstehst du?"
"Nein. Hast du meinen Bauch schon mal gesehen? Oder meine Oberschenkel?"
"Zeig mal."
Ich steckte mir eine kompakte Zigarette in meinen Mund und zündete sie an.
Sie zog vier Schichten an Klamotten nach oben und zeigte ihren Bauch.
"Ach du Scheiße", rutschte es mir raus.
Ihre Hüftknochen und jede ihrer Rippen stachen dermaßen hervor, sie sah aus wie ein Skelett.
Nichts als fucking Haut und Knochen.
Ich hatte wirklich Angst.
"Ich will 'nen Krankenwagen rufen...", murmelte ich.
"Bitte nicht", presste sie zwischen ihren Lippen hervor und umschlang mein Handgelenk mit ihren knochigen Fingern.
"Bitte, iss was", murmelte ich.
"Wenn du mir sagst, was du genommen hast."
Ich schwieg.
War es mir das wert?
Womöglich noch mal von ihr geschlagen zu werden?
"Crystal", platzte es aus mir raus.
"Wieso?"
"Ich hab' dich gesucht, dann saßen da so Typen auf der Couch die mir was angeboten haben und ich konnte einfach nicht Nein sagen. Ich hab' das nie gelernt", nuschelte ich.
"Wenn du unbedingt willst, können wir was essen..."
Ich nickte.
"Lass Timo suchen, wir holen was von McDonald's."
Ihre Augen wurden groß.
"Aber..."
"Nix aber, entweder du isst jetzt was oder du verreckst."
"Okay", gab sie klein bei und wir kletterten vorsichtig wieder ins Haus.
Timo saß zu unserem Glück auch direkt auf dem Klo.
"Eeeeeyyyy", grinste ich ihn an.
"Wart ihr auf'm Dach?"
Ich nickte ihm zu.
"Lass zu Mecces, ich hab' Hunger."
"Jetzt?"
Ich nickte erneut.
"Klar."

sechs minuten und dreißig sekunden im himmelWhere stories live. Discover now