Prolog

1.8K 33 6
                                    

triggerwarnung:
suizidversuch, selbstverletzendes verhalten, drogenkonsum, essstörungen, sexuelle und physische gewalt

Nur drei Schnitte.
Drei.
Aber davor musste ich erstmal diesen beschissenen Rasierer auseinanderbauen.
Und ich durfte mir nicht zu viel Zeit lassen.
"Fuck", flüsterte ich.
Ich hatte mir in den Finger geschnitten.
Aber nicht mit der Klinge, sondern mit dem Plastikrest, der jetzt auf dem Boden lag.
Wie dumm war ich eigentlich.
Zitternd legte ich die Klinge an meinem oberen Unterarm an.
Jetzt gab es noch ein Zurück.
Aber das wollte ich ja gar nicht.
Also drückte ich die Rasierklinge richtig tief rein und ritzte mir meinen gesamten Unterarm auf.
"Scheiße", schrie ich auf.
Soviel zum Thema, wie dumm war ich eigentlich.
Also noch der andere Arm, der noch mehr weh tat.
Es war gar nicht so einfach, weil mein anderer Arm schon so geschwächt war.
Sollte ich den dritten Schnitt noch machen?
Es rüttelte an der Tür.
"Altan, komm sofort raus! Nimmst du Drogen da drin?"
Ich antwortete nicht, sondern tastete hektisch meinen Hals ab.
Bis ich meine Halsschlagader gefunden hatte und auch diese mit der in Blut getränkten Klinge durchtrennte.
Ich hörte einen Schlüssel, der sich im Schloss drehte.
Was, wenn ich überleben würde?
Egal.
Würde ich eh nicht.
Niemand wollte sowieso, dass ich den Scheiß hier überlebte.
Mir war schwindelig.
Ich wollte kotzen.
Meine Arme verkrampften sich, und wenn ich nicht am Blutverlust sterben würde, dann wahrscheinlich an den unfassbaren Schmerzen, die ich gerade hatte.
"Ach du Scheiße", sagte der Betreuer laut.
Das war das erste Mal, dass er solche Fäkalausdrücke benutzte.
Und wäre ich hier nicht am Verrecken, würde ich vielleicht sogar ein bisschen drüber lachen.
Aber ich hatte unfassbare Schmerzen und mir war es unmöglich, jetzt, in dieser Situation zu lachen.
"Wir brauchen SOFORT einen Krankenwagen", schrie er.
Langsam hörte mein Körper auf, zu arbeiten.
Ich machte nichts, aber kippte im Sitzen nach hinten um.
Ich hoffte nur, dass jetzt niemand sein Leben lang traumatisiert war.
Was wahrscheinlich alle waren, die mich jetzt so sehen würden.
Oder auch nicht - war ja nur ich.
Meine Atmung grenzte eben noch an Hyperventilation, jetzt bekam ich keine Luft mehr.
Alles war aber so gedämpft.
Es war fast wie so eine kleine Line Chore.
Meine Augen fielen zu.
Ich war kurz davor, mich zu erbrechen, aber mein Körper hatte keine Kraft mehr.
Ich hörte, wie irgendwelche Leute herumschrien und spürte, dass sie mich anfassten.
Aber ich wusste nicht mal wo.
Alles, was ich spürte, waren die furchtbaren Krämpfe, die sich von meinen Unterarmen in meinen ganzen Körper ausgebreitet hatten.
Sollte ich das hier doch überleben - was sowieso nicht passierte - würde ich mich nächstes Mal einfach erhängen.
Oder so.

*

Es fühlte sich an wie aufwachen, aber ich öffnete meine Augen nicht.
Ich hatte gar keine Augen mehr.
Allgemein - irgendwie war da kein Körper, der mich gefangen hielt.
Ich sah aber trotzdem was.
Es war so hell, dass es mich eigentlich blenden sollte.
Tat es aber nicht.
Ich sah auf einmal mehr als dieses Licht.
Ich sah mich, mit sechs oder sieben Jahren, wie ich mit meiner Schulfreundin spielte und Spaß hatte.
Dann sah ich mich, wie ich dem gleichen Mädchen aus dem Weg ging.
Ich wusste auch genau, warum ich das tat.
Ich war zwölf und hatte schon einen Joint in der Hand, sie liebte immer noch ihre Eltern, war brav und lieb.
Ich sah mich, wie ich mit zittrigen Händen in meinem Kinderzimmer Crystal Meth in eine Glaspfeife streute und mich nach dem Konsum aufgeregt in mein Bett fallen ließ, aber sofort wieder auf stand und irgendwas an meine Wand malte.
Dann sah ich mich.
Im Gerichtssaal.
Fünfzehn Jahre alt.
Verurteilt zu drei Jahren in einer Jugendhilfeeinrichtung.
Ohne diesen Körper fühlte es sich an, als würde ich schweben.
Aber dieses Wunderschöne Gefühl hielt nicht lange.
Es war schrecklich, als würde ich fallen.
Ich hasste Freefalltower, Achterbahnen dagegen mochte ich.
Aber das hier fühlte sich nicht an wie eine Achterbahn, sondern wie ein Freefalltower.
Das helle Licht verschwand und ich fühlte mich wieder schwer.
War ich zurück in meinem Körper?
Wenn ja, scheiße.
Wenn nein... wo sonst.
Langsam erlangte ich mein Bewusstsein wieder zurück.
Ich hörte ein leises, regelmäßiges Piepen.
Und gefühlt achtzig Leute um mich herum, die über irgendwas redeten.
Wahrscheinlich mich.
Und heilige Scheiße, meine Arme taten weh.
Nur mit Mühe schaffte ich es, meine Augen aufzumachen.
"Er ist wach", sagte der Betreuer, der mich gefunden hatte, leise.
Er hatte geheult.
Ich war so ein scheiß Bastard.
Leute zum Heulen bringen, die prinzipiell nichts falsch gemacht hatten.
Mehr konnte ich nicht.
Ich versuchte, etwas zu sagen, aber brachte kein Wort über meine Lippen.
"Du hättest schon sagen können, dass es dir nicht gut geht, Altan. Dafür hätten wir eine Lösung gefunden."
Ich sah ihm in die Augen, und versuchte noch mal, irgendwas zu sagen, aber aus mir kam kein Laut raus.
Ich erhaschte einen Blick auf meine Arme.
Diese waren dick in Verbände eingewickelt.
So wie mein Hals.

"Wir geben dir mal ein Schmerzmittel, hat er irgendwelche Allergien?"
"Nein, aber er hatte ein paar schwere Suchterkrankungen in der Vergangenheit. Beziehungsweise hat, immer noch."
"Wenn er keine Allergien hat, würde ich ihm jetzt Fentanyl geben. Das wirkt sedierend und wird ihm gut helfen, mit den Schmerzen klar zu kommen."
Naja.
Wenigstens eine gute Sache hier.
"Geht wirklich nichts anderes?"
"Es ginge schon, aber dann bräuchten wir zwei Medikamente, die sich bei ihm eventuell nicht vertragen. Allerdings brauche ich für die Fentanylverabreichung die Einstimmung eines Erziehungsberechtigten, da das Medikament in Deutschland unter das Betäubungsmittelgesetz fällt."
"Ich ruf' seinen Erziehungsbeistand an, der wird das eher verstehen als seine Eltern", seufzte er.
"Bist du müde? Du kannst dich ruhig ausruhen, dafür bist du auch hier."
Ich nickte, so gut ich konnte und schloss meine Augen wieder.

sechs minuten und dreißig sekunden im himmelKde žijí příběhy. Začni objevovat