[𝟐] 𝐅𝐚𝐥𝐬𝐜𝐡 𝐡𝐞𝐫𝐮𝐦

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Am nächsten Morgen war ich schon sehr früh auf den Beinen. Ich war kein Stück müde und fragte mich insgeheim, wie das möglich war. Schließlich hatte ich nur sechs Stunden geschlafen, was für meine Verhältnisse ziemlich wenig war. Normalerweise schlief ich den ganzen Tag aus, aber heute morgen wollten meine Augen einfach nicht mehr zugehen. Also hatte ich mir ein Buch geschnappt und mich auf unseren Balkon gesetzt. Keiner außer mir war wach gewesen und das wunderte mich keinesfalls, denn wir hatten sechs Uhr morgens. Aber vielleicht war das auch besser so, denn nach dem gestrigen Tag brauchte ich ein paar Minuten für mich alleine. Ich hatte den gesamten Tag damit verbracht, auf meine Geschwister aufzupassen und sie heile nach Newsville zu bringen. Diese ganze Reise war einfach nervenraubend, auch wenn es eigentlich schön war, wieder in Dads Nähe sein zu können.

Auf mein Buch konnte ich mich nun nicht mehr konzentrieren. Ständig machte ich mir Gedanken über die gesamte Situation. Würde ich den Sommer genießen? Würden auch meine Schwestern hier glücklich sein? Und was war mit Dad und seiner neuen Freundin Cristina? Würden wir miteinander zurechtkommen? Fragen über Fragen quälten mich schon am frühen Morgen und ich schloss für einen Moment die Augen. Langsam atmete ich die kühle Morgenfrische ein und versuchte, zumindest einen klaren Gedanken zu fassen. Ich hatte das Gefühl, ich würde nicht alle glücklich machen können und genau das war meine Schwachstelle. Ich wollte es jedem recht machen und wusste ganz genau, dass ich es nicht konnte.

Als ich meine Augen wieder öffnete und mein Buch gerade weglegte, fühlte ich mich augenblicklich beobachtet. Und als ich mich umschaute, erkannte ich auch, wieso. Nicht schon wieder.

Auf dem Balkon gegenüber stand plötzlich er. Ungewollt und ohne, dass ich es überhaupt bemerkte, hielt ich die Luft an, während ich den Fremden von gestern Nacht dabei beobachtete, wie er sich gegen das Gelände lehnte und direkt in meine Richtung starrte. Mein Magen machte einen kleinen Sprung und ich wusste nicht, weshalb mir plötzlich die Hitze aufstieg. Vielleicht aufgrund der Tatsache, dass mein Nachbar so unfassbar gutaussehend war.

Ich konnte Mr. Nachbar besser erkennen, als gestern Abend. Ich erkannte seine strahlend grünen Augen, seinen trainierten Körper und sein leicht arrogantes Schmunzeln. Genau wie gestern Abend fielen ihm ein paar Haare ins Gesicht. Ich konnte meinen Blick fast gar nicht lösen, zwang mich aber, aufzuhören. Ich wollte gar nicht wissen, was er von mir dachte. Schließlich sah er mich seit gestern in den ungünstigsten Momenten. Zum Beispiel, wenn ich mitten in der Nacht ein Kuscheltier in der Hand hielt oder morgens um sechs in einem Blümchen-Pyjama auf dem Balkon stand, während er aussah wie Adonis höchstpersönlich. Und als würde das nicht ausreichen, konnte ich meinen Blick kaum von ihm lösen. Ich kam mir vor wie eine Stalkerin. Also schnappte ich mir mein Buch und tat so, als würde ich weiterlesen. Keine Sekunde versuchte ich es, mich auf das Buch zu Konzentrieren. Ganz im Gegenteil. Ich versuchte dafür zu sorgen, dass mir keine Röte ins Gesicht stieg. Und ich versuchte mich hinter den Seiten meines Buches zu verstecken, um nicht aufzufallen, was absurd war, denn er stand mir fast genau gegenüber. Schon seitdem ich ein Kind war, konnte ich es nicht abhaben, angestarrt zu werden oder im Mittelpunkt zu stehen. Jedes Mal, wenn ich meine Hausaufgaben vorlesen musste, wurde ich so rot und stotterte wie verrückt. Mittlerweile hatte sich das etwas gelegt, aber noch immer konnte ich mit fremden Leuten kein Gespräch aufbauen, ohne Panik zu bekommen. Vor Allem nicht mit so attraktiven Leuten.

Im Normalfall hatte kein Mann solch eine Auswirkung auf mich. Ich interessierte mich gar nicht dafür, eben, weil ich ganz andere Sorgen im Leben hatte, als einem Mann gefallen zu wollen. Aber gerade jetzt, in diesem Moment, wusste ich mir nicht zu helfen. Und dass Mr. Adonis genau gegenüber von mir stand und entspannt seinen Kaffee trank, machte das alles nicht besser.

»Muss ja ein spannendes Buch sein«, ertönte eine raue, männliche Stimme. Heilige Scheiße. Das war jetzt nicht passiert. Jetzt konnte ich nichts daran ändern, dass ich errötete. Mein ganzer Körper war plötzlich angespannt und eine Gänsehaut durchfuhr meinen Körper. Noch nie hatte ich es erlebt, dass ich so auf einen Mann reagierte. Geschweige denn, so nervös wurde, nur weil einer mit mir sprach.

tears of passionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt