Kapitel 1

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Harrys POV:

„Oui... magnifique, 'Arry! Dreh disch un petit peu!" Das Klicken des Kameraauslösers ertönte in immer kürzeren Abständen und der Fotograf steigerte sich geradezu hinein, wurde dabei immer lauter und energischer in seinen Anweisungen – leider zum Leidwesen seiner englischen Aussprache. Harry machte nur kleine Bewegungen. Er drehte seinen Kopf ein wenig, veränderte die Position seiner Hände, spielte mit seiner Mimik. Das reichte völlig, so viel wusste er inzwischen über das Posen vor einer Kamera.

Ein letztes Mal blitzte es vor ihm auf, dann hatte er es geschafft. Dies war sein drittes Shooting, seit er in Paris angekommen war und in Anbetracht der kurzen Zeit – er war erst seit knapp acht Wochen hier – war er sehr stolz auf diese Leistung, denn Models gab es hier wie Sand am Meer und die meisten hatten deutlich mehr Erfahrung als er.

Harry zog die Designerklamotten, in denen er für eine Modestrecke in einer Zeitschrift fotografiert worden war, aus, schlüpfte in seine schwarze Skinny-Jeans, ein olivgrünes T-Shirt und seine heiß geliebten Chelsea-Boots und verließ die ehemalige Lagerhalle, die als Location für das Fotoshooting gedient hatte.

Draußen wehte ihm ein laues Lüftchen um die Ohren, was bei der drückenden Hitze der letzten Tage geradezu eine Wohltat war. Die nächste Metro-Station war nur einen kurzen Fußweg entfernt und als er in der Metro in Richtung Innenstadt saß und seinen Blick durch das Fenster schweifen lassen konnte, musste Harry einfach lächeln und einmal mehr den Kopf darüber schütteln, wie das Leben manchmal spielte.

Vor nicht einmal sechs Monaten saß Harry noch Tag für Tag in der Schule, bereitete sich auf seinen Abschluss vor und versuchte der Frage auszuweichen, was er denn in Zukunft machen wollte- und diese Frage kam von vielen Leuten, allen voran von seiner Mutter Anne, seiner älteren Schwester Gemma und seinen Lehrern. Auch Harry selbst stellte sich diese Frage, fand jedoch einfach keine Antwort. Er konnte sich keinen Beruf vorstellen, den er ein Leben lang – oder zumindest für die nächsten zehn Jahre – ausüben wollen würde. Stattdessen wollte Harry die Welt entdecken, Verschiedenes ausprobieren, Erfahrungen sammeln und so herausfinden, wer er eigentlich war und was er wirklich wollte.

Und dann kam plötzlich mitten in der Londoner Innenstadt ein Mann auf Harry zu, der sein Leben auf den Kopf stellen sollte. Es war Januar und Harry war auf dem Weg zu einem Café, in dem er mit seiner Schwester verabredet war, die in London studierte, als ihn ein kleingewachsener, etwas rundlicher Mann, der seine besten Jahre bereits hinter sich zu haben schien, ansprach und sich als Agent einer Modelagentur vorstellte, die auf der Suche nach neuen Gesichtern war. Er drückte Harry eine Visitenkarte in die Hand und lud ihn zu einem Probeshooting in der Agentur ein. Mehrfach betonte er, dass er genau so ein Gesicht wie eben das von Harry suchen würde und das obwohl besagtes Gesicht halb von seinem Schal sowie seinem hochgeklappten Mantelkragen verdeckt wurde, die ihn vor der Januarkälte schützen sollten.

Im Café angekommen erzählte Harry seiner Schwester von der skurrilen Begegnung und zeigte Gemma die Visitenkarte. Zusammen googelten die beiden die Agentur und mussten feststellen, dass diese gar nicht so klein war und auch international agierte. Aus einem Impuls heraus entschied Harry, das Probeshooting zu machen. Es schmeichelte natürlich auch seinem Ego, dass gerade er zwischen all den Menschen angesprochen worden war. Harry war sich durchaus bewusst, dass er gut aussah. Er war groß und schlank, ohne dabei schlaksig zu wirken, hatte grüne Augen und braune Haare, die ihm in leichten Locken bis zum Kinn reichten. Er wusste auch genau, welche Wirkung sein Lächeln hatte- sowohl bei Frauen als auch bei Männer.

Letztendlich war er zehn Tage nach dem Treffen mit Mr Green, so der Name des Agenten, der ihn auf der Straße angesprochen hatte, in der Agentur gewesen, wurde vermessen, gewogen, fotografiert, für gut befunden und schneller als er sich's versehen hatte, war Harry offiziell als Model in der Kartei aufgenommen worden.

Trotz Schule absolvierte Harry seine ersten Castings und kleinere Jobs und es machte ihm Spaß. Mehr als das sogar, er ging regelrecht auf, wenn eine Kamera auf ihn gerichtet wurde. Und das Beste an der Sache: er verdiente damit Geld.
Kurz vor seiner ersten Abschlussprüfung bat Mr Green Harry dann erneut in die Agentur und sollte ein weiteres Mal sein Leben mit einem unerwarteten Angebot entscheidend beeinflussen.

Wie Harry durch seine Recherche mit Gemma bereits wusste, agierten Mr Green und seine Agentur international und offensichtlich war Harrys Typ in Paris noch viel mehr gefragt als in London. Die Agentur besaß in Paris diverse Wohnungen, die sich deren Models als Wohngemeinschaften teilten und in eben so eine sollte Harry ziehen, um in Frankreich als Model zu arbeiten.

Natürlich ging es von diesem Zeitpunkt an nicht einfach so für Harry nach Paris. Er war zwar seit ein paar Wochen 19 Jahre alt und hätte diese Entscheidung alleine treffen dürfen, aber er war trotz des Modelns finanziell von seiner Mutter abhängig und hatte bis dahin nicht einmal innerhalb Englands alleine gelebt, geschweige denn in einem anderen Land. Außerdem musste er noch die Schule beenden. Aber er war sich einfach sicher, dass dies seine Chance sein würde, um herauszufinden, wer er war und was er wollte und das verstand auch seine Mutter, die ihren Sohn sehr gut kannte und immer hinter ihm stehen würde.

An seiner Haltestelle im Quartier Latin, das auch bekannt war als das Studentenviertel von Paris, stieg Harry aus der Metro. Es war Ende August und das neue Semester an den Universitäten stand kurz bevor, daher waren die Straßen sehr belebt. Überall saßen junge Menschen in den Cafés, sausten auf Fahrrädern umher und flanierten durch die Gassen auf der Suche nach den schönsten Plätzen.

Harry ließ sich von dem bunten Treiben mitreißen und überquerte eine Straße gerade noch rechtzeitig, bevor die Fußgängerampel endgültig auf Rot schaltete. Während er die Bordsteinkante hochhüpfte, kam ihm ein junger Mann mit hängenden Schultern entgegen, der offenbar völlig in Gedanken versunken den Blick gesenkt hatte und vom Bürgersteig auf die Straße trat. Harry war schon fast an ihm vorbei, als ihm bewusst wurde, dass die Ampel schon bei ihm auf Rot geschaltet hatte. Inzwischen konnte er die anfahrenden Autos bereits hören.

„Hey!", rief Harry und drehte sich zu dem jungen Mann um. Von links kam ein Auto, dessen Fahrer sich mehr auf die viel zu laute Musik konzentrierte, die durch die heruntergelassenen Scheiben seines Autos dröhnte, als auf den Verkehr oder die zugelassene Höchstgeschwindigkeit. Doch auch dies schien der junge Mann nicht zu bemerken, denn er ging einfach weiter.

Im Nachhinein wusste Harry nicht mehr genau, wie es passiert war, aber er musste sich umgedreht haben und zurück auf die Straße gesprungen sein. Dort hatte er den Mann an den Schultern gepackt und sich mit ihm zurück auf den Bürgersteig geworfen, kurz bevor das Auto an ihnen vorbeiraste.
Das nächste, was er bewusst wahrnahm, waren ein schneller Herzschlag, ein erschrockenes Aufkeuchen und ein Paar strahlend blauer Augen, die ihn anstarrten.

Don't Let It Break Your HeartDonde viven las historias. Descúbrelo ahora