Kapitel 15

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Die nächsten Tage verbrachte Ellen hauptsächlich mit dem Training bei Búrtak. Selbst wenn ihre Lunge und Muskeln anfangs heftig gegen die morgendlichen Laufeinheiten protestierten, stellte sie bald fest, dass sie sich immer wieder darauf freute. Es war befreiend, alles hinter sich zu lassen. Sich einzureden, man könne einfach davonlaufen vor der Enge der Festung und den Zweifeln an ihrer Entscheidung, die trotz energischen Verdrängens noch immer in ihrem Hinterkopf wüteten. Bei dieser Herausforderung musste man nicht über die Zukunft nachdenken, weil das Einzige, das wirklich zählte der nächste Schritt war, der dem Rhythmus einer Trommel glich. Der nächste Atemzug, der in ihren Ohren rauschte. Außerdem liebte sie den Moment, wenn die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne ihre Haut kitzelten und ihre Lebensgeister erweckte. Ohne dieses Licht, da war sie sich sicher, würde das Halbdunkel Angbands sie wahnsinnig machen.

Außerdem bemerkte Ellen mit der Zeit, dass sie sich veränderte. Es dauerte immer länger, bis ihre Lunge gegen die Anstrengungen zu protestieren begann und aus den Kampfübungen in den unteren Ebenen ging sie mit immer weniger blauen Flecken hervor. Das lag zum Teil an ihrem Ehrgeiz, den endlosen Vorträgen Búrtaks zu entgehen. Langsam lernte sie, ihren Geist zu gebrauchen, wenn ihr Körper nicht mehr konnte, um sich zum Weitermachen zu zwingen. Dabei erfüllte es sie mit befriedigender Genugtuung, wenn die Orkfrau immer weniger Gründe fand, um sich zu beschweren. Gleichzeitig kam sie nicht umhin, das anerkennende Funkeln in Búrtaks Augen wahrzunehmen, wenn sie eine Verbesserung bei Ellens Leistung feststellte. Irgendwann würde sie es auch schaffen, Búrtak ein Lob abzuringen.

Doch nicht nur ihre Leistung, sondern auch der Körper hatte sich verändert. Als sie eines Abends vor dem Spiegel stand stellte sie überrascht fest, dass ihre Schultern und Oberarme wesentlich breiter und ihre Hüften ausladender geworden waren. Eine Veränderung, die Búrtak auf Ellens Hinweis nüchtern mit „Gut" bewertete. Gefolgt von dem Kommentar: „Du warst ein Streichholz, als wir hier angefangen haben."

Der Zweite Ort, an dem Ellen sich häufig aufhielt war die Bibliothek im Nordturm. Dieser hatte den Vorteil, dass seine Spitze die Qualmwolke durchbrach, die über Angband lag. Wenn Ellen sich auf die gepolsterte Fensterbank kuschelte und sich bis in die Nacht in eine Schriftrolle vertiefte, dann konnte sie sogar die Sterne am Himmel blinken sehen, als würden sie ihr zuzwinkern.

In der Bibliothek befand sie sich auch, als Sauron sie fand. Vertieft in eine Art Karte, nach der sie wegen eines generellen, doch leider nie wirklich geförderten Interesses an Geographie gegriffen hatte, hörte Ellen ihn nicht gleich und war dementsprechend erschrocken, als er plötzlich vor ihr stand. Seit dem Vorfall in der Werkstatt hatte sie nicht mehr mit dem Dämon gesprochen und noch hatte er sie nicht völlig in seiner Gewalt. Jede Begegnung mit Sauron bedeutete, dass sie ihre Seele ein wenig mehr an Angband verkaufte.
„Amüsierst du dich gut," wollte dieser mit Blick auf ihre Lektüre wissen.
Ellen zog es vor, nicht zu antworten. Stattdessen rollte sie das Schriftstück ordentlich zusammen, um es in ihre Tasche zu stecken.
„Ich hörte," fuhr der Dämon einfach fort, „dass du große Fortschritte machst."
Ellen verdrehte beinahe grinsend die Auge: „Und das sagt Búrtak selbstverständlich dir, während ich kaum einen lobenden Blick bekomme."
„Es hat schon Vorteile, in der höher gestellten Position zu sein," lächelte Sauron gerade, während er eine Augenbraue hochzog, „und deine Aussprache wird besser. Du sprichst fast, wie eine von uns."
Darüber musste Ellen stutzen. Wann hatte sie angefangen, die Schwarze Sprache öfter zu verwenden als ihre Muttersprache.
„Was willst du," fauchte sie daher auf Sindarin.
Jetzt war es an Sauron, die Augen zu verdrehen.
„Dich zum Tee einladen," er sah sie an, als sei sie ein unverständiges Kind, „ich nehme dich natürlich mit in den Westturm, damit wir an deinen Kräften arbeiten können. Ohne dir zu nahe treten zu wollen, aber im Moment bist du uns nicht gerade von Nutzen."
„Freut mich zu hören."
Sie hatte die letzten Tage beharrlich versucht, zu verdrängen, dass ihr neues Leben aus mehr als nur Training bestand doch der Dämon hatte sie unweigerlich wieder daran erinnert. Für Ellen ein vertretbarer Grund, von jetzt auf gleich schlechte Laune zu sein.

Trotzdem folgte sie Sauron klaglos in den Turm, den sie inzwischen so gut kannte. Als er die Tür ordentlich verriegelt und sich erwartungsvoll zu ihr umgedreht hatte, blickte sie ihn herausfordernd an. Sie hatte keine Wahl, als in Angband zu bleiben und wenn sie blieb, würde Sauron ihren Geist verdrehen und sie korrumpieren. Doch sie musste es ihm ja nicht zu einfach machen.
„Was ist, wenn ich nicht will?"
Der Dämon zuckte gleichgültig mit den Schultern.
„Ich könnte wieder jemanden foltern lassen. Jedes Mal. Bis du deine Lektion gelernt hast."
„Wenn du das tust, dann bringe ich mich um."
Sie wussten beide, dass das eine Lüge war. Sie hatte es bereits versucht und festgestellt, dass sie es nicht konnte.

„Konzentriere dich," verlangte Sauron, „als du in mein Experiment geplatzt bist hatte ich Schatten verfestigt. Ich wollte sie in die Muskeln des Versuchsobjekts einweben, um unsere Krieger besser zu tarnen," Ellen musste würgen bei dieser Vorstellung, „doch offenbar sind Schatten mehr als nur die Abwesenheit von Licht. Sie ziehen einander an. Sie arbeiten zusammen, wie... wie bei einem Tanz, sie gehorchen den Bewegungen der anderen," er blickte Ellen durchdringend an, „und jetzt sind sie in deinem Geist."
Bei diesem Gedanken schüttelte es die Elbe. Sie versuchte, nicht darüber nachzudenken, doch das Gefühl des Unbehagens wurde mit jeder Sekunde größer.
„Versuch, die Schatten hier zu rufen. Verstecke dich in ihnen, verfestige sie, irgendwas."
Bestimmt sah sie albern aus, wie sie die Arme ausbreitete und versuchte, sich zu konzentrieren. Zusätzlich hatte sie, als sie ihren Geist nach den Schatten im Raum ausstreckte, das Gefühl, sie versuche, eine haarige Spinne zu sich zu locken. Jetzt, da es keinen konkreten Anlass gab, sträubte sich alles in ihr dagegen, sich noch weiter in die Dunkelheit hinein zu wagen. Sie holte tief Luft, um das Gefühl abzuschütteln, versuchte, sich an die Trainingsstunden mit Búrtak zu erinnern: Der Geist siegt über den Körper. Doch wie sollte ihr Geist über ihren Geist siegen?

„Du musst dich ihnen öffnen," Saurons Kommentar war wenig hilfreich. Auch förderte es ihre Konzentration nicht wirklich, wenn er sie ansah, als sei sie eine neuartige Pflanze, die es zu untersuchen galt. Doch Ellen verzichtete darauf, ihn darauf hinzuweisen. Stattdessen versuchte sie es mit einer anderen Vorgehensweise: Sie werden dich töten, rief sie sich in Erinnerung, wenn du das hier nicht schaffst, hast du keinen Nutzen mehr für sie! Das half wenigstens ein Bisschen. Sie spürte, wie ein Teil ihrer Beklemmung wich, doch das reichte gerade mal aus, um die Luft um sie herum zum Vibrieren zu bringen.

Einatmen.

Ausatmen.

Die Schatten sind hier. Du musst sie nur spüren. Sie sind hier...

Da war tatsächlich etwas. Ganz sanft spürte Ellen die Präsenz von etwas anderem. Kein Bewusstsein, nicht einmal ein wirklicher Wille. Es fühlte sich an, als würde sie ein Werkzeug betrachten, das für sie bereitlag. Nur viel lebendiger. Ein Instrument? Nein, das hier war unbändiger, mächtiger. Vorsichtig streckte sie ihren Geist danach aus. Halb sah sie, wie die Schatten zu beben begannen, voller Erwartung ihrem Befehl zu gehorchen. Da war eine Verbindung zwischen ihnen-
Das Bild ihrer Mutter blitzte vor Ellens innerem Auge auf, wie ein Speer ihren Bauch durchbohrte.
Sofort riss die Verbindung und das bedrückende Gefühl des Abscheus kehrte zurück. Sie wollte nicht dieselbe Kraft verwenden, durch die Spezies geschaffen worden war, die ihre Eltern getötet hatte. Auch Orks waren früher Elben gewesen, bevor Sauron seinen Schatten in ihre Herzen getrieben hatte. Wenn dies Kraft dasselbe mit ihr tun würde, wollte sie sich wenigstens so lange, wie möglich wehren.

„Wie lange wollen wir das hier machen?" fragte sie den Dämon der sie immer noch erwartungsvoll anstarrte.
Sauron antwortete nicht, sondern bedeutete ihr nur, es noch einmal zu versuchen.

Lenda i MorielenweWhere stories live. Discover now