Kapitel 18

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Als Ellen bei Einbruch der Dämmerung mit Búrtak vor die Tore Angbands trat, wartete Sauron bereits auf sie. Neben ihm standen ein Ork und vier der Trollpferde, jedes gesattelt und mit einem Beutel an Verpflegung und Gepäck beladen. Sie hatten sich darauf geeinigt, nachts zu reiten, um den Orks die Reise zu erleichtern. Mit leicht klopfendem Herzen trat Ellen auf die beiden zu, kam allerdings nicht mehr dazu, etwas zu sagen, denn Búrtak stieß einen überraschten Schrei aus. Eine Sekunde später, war sie auf den Ork neben Sauron zugestürmt und zog ihn in eine knochenbrechende Umarmung. Es dauerte einen Moment, bis Ellen begriff. „Ist das Shaglob," wollte sie von Sauron wissen, der bestätigend nickte.
„Sie sind gestern zurückgekommen," erklärte er, „sie sind von einem Unwetter überrascht worden und saßen einige Zeit in einer Höhle in den Eisenbergen fest."
Es überraschte Ellen, ein Lächeln auf dem Gesicht des Dämons zu sehen als er die beiden betrachtete, doch auch sie selbst musste grinsen, angesichts der unendlichen Erleichterung in den Augen ihrer Freundin. Diese war gerade dabei, ihrem Mann einen leidenschaftlichen Kuss auf die Lippen zu drücken, bevor sich beide wieder den anderen zuwandten.

„Du bist also Shaglob," ein wenig unbeholfen trat Ellen einen Schritt vor, um dem Ork die Hand zu schütteln, was anscheinend die passende Geste gewesen war, „Búrtak hat einiges von die erzählt," die Orkfrau warf ihr einen warnenden Blick zu, „ich bin Ellen."
Shaglob nickte: „Ich bin hier so etwas wie eure Leibwache," stellte er sich vor, „meine Frau unsere Navigatorin."
Nicht ohne Stolz klopfte Búrtak auf die Kartenrollen, die sie über der Schulter trug, bevor sie sich auf ihr Reittier schwang. Auch die Elbe befestigte nun das Bündel an ihrem Sattel, das unter anderem ein medizinisches Notfallset aus Shagaz' Apotheke enthielt. Trotz allem war sie eine Heilerin und noch nie ohne ihre Arzneien gereist. Es dauerte einige Minuten, bis Ellen sich ungelenk in den Sattel gezogen hatte, denn Ronkbúrz, wie sie das Tier wegen seiner tiefgründigen, schwarzen Augen getauft hatte, besaß anscheinend die Angewohnheit, loszulaufen, während ihr Reiter noch halb in der Luft hing. Letztlich musste Shaglob das Tier am Zügel greifen, damit es ruhig blieb. Auch verlief ihr Abschied von Angband sehr viel hastiger, als geplant, da Ellen es trotz energischem Einsitzens kaum schaffte, Ronkbúrz zum Anhalten zu bewegen. Nur mit viel Mühe brachte sie sie dazu, sich zwischen Sauron und Shaglob einzureihen, denn das Reiten eines Trollpferdes hatte offensichtlich nichts mit der von ihr erlernten Technik für gewöhnliche Pferde gemein. Gewichts- und Schenkelhilfen schien das Tier kaum wahrzunehmen – von Stimmkommandos ganz zu schweigen – sodass sie notgedrungen auf den groben Einsatz der Zügel zurückgreifen musste.

Nach einigen Stunden im Sattel stellte Ellen überrascht fest, dass der Ritt nicht gerade unangenehm war. Gut, ihr Steißbein fühlte sich an, als sei jemand darauf herumgetrampelt und die über dem breiten Pferderücken ungewohnt gespreizten Beine machten das nicht gerade besser. Doch die Landschaft, die sie durchquerten fesselte ihre Aufmerksamkeit so sehr, dass sie es kaum bemerkte. Anfangs schien ihr das nichts Ungewöhnliches zu sein, doch irgendwann stutzte sie. Hier, noch immer unter dem wolken- und qualmverhangenen Himmel Angbands, war kein einziger Stern zu sehen, vom Mond ganz zu schweigen. Trotzdem war ihre Sicht ungewöhnlich klar. War das die Art, auf die Orks die Dunkelheit wahrnahmen? Schnell schob sie diesen Gedanken weg und sah sich aufmerksam um.
Vegetation schien es in den Gebieten um die Festung wenig zu geben, allerdings bemerkte Ellen trotzdem Unterschiede. In der Nähe der Festung bestand der Boden aus staubiger, trockener Erde, die von einem Spinnennetz aus Wegen durchzogen, aber ansonsten doch recht kahl war. Weiter südwestlich – die Richtung, in die sie sich bewegten – wurden die Wege unwirtlicher, die Gegend dafür aber felsiger und das Gelände leicht ansteigend. Hier tauchten vereinzelt kahle Dornenbüsche auf, unter denen dunkelgrünes Unkraut aus den Rissen im Gestein an die Oberfläche kroch. Wenig später machte Ellen auch einen Fluss aus, der in einer Höhle im Felsen verschwand, wo er vermutlich unterirdisch in Richtung Angband weiterfloss. Außerdem hatte Búrtak es sich zur Angewohnheit gemacht, die Landschaftsmerkmale, die sie passierten zu benennen, sodass Ellen den Großteil des Tages mit der Entschlüsselung seltsamer Namen in der Schwarzen Sprache beschäftigt war. Sie kam dahinter, dass das Tal östlich von ihnen, Bagronk, den schmeichelhaften Namen Jauchegrube trug, während der Fluss, dem sie nun folgten, Gulbúruz, schwarzes Phantom genannt wurde.
Es überraschte sie, wie selbstverständlich sie inzwischen mit der Schwarzen Sprache umging, wie natürlich sie sich gegenüber einem Orksoldaten verhielt. Noch immer war sie der Meinung, dass es nicht richtig war, in Angband zu bleiben und zuzulassen, dass Sauron ihre Kräfte für seine grausamen Ziele missbrauchte. Doch innerhalb von kürzester Zeit hatte sie sich an das Leben hier gewöhnt. Hatte Freunde gefunden, die sie nicht verlassen konnte. Nicht verlassen wollte.

Obwohl sich der Rauch, der über Angband den Himmel verdeckte hier ein wenig gelichtet hatte, bemerkte Ellen trotzdem nicht, wie die Sonne aufgegangen war.
Erst Saurons Anweisung zum Halten erinnerte sie daran, dass sie den folgenden Tag nicht auf den Rücken ihrer Trollpferde verbringen konnten, die eine Rast unbedingt nötig hatten.
Mit der Morgendämmerung war auch ein starker Wind aufgekommen, sodass Shaglob vergeblich versuchte, hinter einem einigermaßen hohen Felsen ein Feuer in Gang zu bringen. Erst eine gemurmelte Beschwörung Saurons ließ die dürren Zweige in prasselnde Flammen aufgehen, wobei Ellen sich größte Mühe gab, nicht beeindruckt zu schauen. Stattdessen unterstützt sie Búrtak dabei, den Trollpferden ihre Sättel abzunehmen und bestand außerdem darauf, sie auch von ihren Trensen zu befreien. Später, wenn sie sie anbinden würden, würden sie sie aufhalftern, um ihnen die Schmerzen eines Gebisses während ihrer Rast zu ersparen. Dann gab die Orkfrau ihren Reittieren einen Klaps auf das Hinterteil, damit sie sich zwischen den kargen Felsen einige Flechten suchen konnten.
Offensichtlich zu stolz, um sich ihre Müdigkeit anmerke zu lassen, wandte Búrtak sich Ellen zu: „Schön, mal wieder raus zu kommen, was?"
Die Elbe verdrehte die Augen: „Du meinst, außer dass ich mich fühle, als wäre jemand auf mir herumgetrampelt? Warum konnten wir keine normalen Pferde nehmen?"
„An denen ist nichts dran. Die Trollpferde geben wenigstens eine gute Mahlzeit ab."
Auf Ellens verstörten Blick hin warf sie verzweifelt die Hände in die Luft.
„Das war ein Witz! Du musst noch sehr viel lernen, meine Liebe, wenn du-"
Sie wurde von Shaglob unterbrochen, der offensichtlich eine Art Mahlzeit zustande gebracht hatte. Viel geredet wurde nicht, während sie an trockenem Dörrfleisch nagten. Shaglob und seine Frau unterhielten sich leise, wofür Ellen Verständnis hatte, immerhin hatten sie sich wochenlang nicht gesehen. Allerdings ließ es ihr nur die Möglichkeit zu Schweigen, oder ein Gespräch mit Sauron zu beginnen – wobei sie ersteres definitiv vorzog. Immerhin hielt die unangenehme Situation nicht lange an. Schon nach wenigen Stunden war das Feuer heruntergebrannt, sie sammelten die Pferde ein und Sauron, der ohnehin nicht schlief, übernahm die erste Wache. Auch Ellen hatte als Elbe keine Notwendigkeit, zu schlafen, doch ihrem Geist ein wenig Ruhe zu gönnen, war definitiv angenehmer, als stundenlang auf eine leere Ebene zu starren.

Lenda i MorielenweWo Geschichten leben. Entdecke jetzt