Kapitel 22

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Als die kleine Gruppe die Steigung vor dem Dorf schließlich überwunden hatte, ging es überraschend schnell, dass sie mitten auf einer Straße standen, die umringt war von heruntergekommenen Holzhütten mit schmutzigen Fenstern und quietschenden Türen. Doch es waren nicht die Häuser, die Ellens Aufmerksamkeit fesselten. Auch nicht die Tatsache, dass das Konzept von Hygiene hier nicht zu existieren schien, was ihre Nase unzufrieden feststellte. Was sie erschütterte, waren die Bewohner des Dorfes, die aus ihren Häusern strömten, um die Neuankömmlinge zu betrachten. Offensichtlich handelte es sich um Orks, doch noch nie hatte Ellen solche Orks gesehen. Da war einer, dessen Augen von einer schmutzigen Binde verdeckt wurden. Ein anderer hielt sich ungelenk auf einer Krücke, während sein rechtes Bein unter dem Knie in einem glatten Stummel endete. Sie sah Orks, denen Arme oder Hände fehlten, deren halb nackte Körper mit Narben übersäht waren, deren Ursprung sie sich gar nicht vorstellen wollte, die teilnahmslos durch zerbrochene Scheiben blickten, die Augen glasig und den Mund sabbernd geöffnet. Ihr drehte sich der Magen um, als ihr Blick über all das Elend glitt, das an diesem Ort konzentriert war.
„Was..." die Worte blieben ihr im Hals stecken.
„Kriegsopfer," murmelte Búrtak, die sich in respektvollem Abstand von Sauron hatte zurückfallen lassen und nun neben der Elbe ritt, „die Festung kann es sich nicht leisten, sie unterzubringen."
„Das... das ist grausam," es stimmte, dass auch bei Elben Invalide nicht so hoch geehrt wurden, wie gefallene Elben – etwas, womit auch ihr Vater zu kämpfen gehabt hatte – doch sie hatten immerhin einen Platz in der Gesellschaft.
Allerdings tauchte bei diesem Gedanken eine weitere Erkenntnis auf: Es waren keine Kriege der Orks untereinander gewesen, die sie so verstümmelt hatten. Ihr Volk war im Recht gewesen, rief sie sich in Erinnerung, sie hatten aus reiner Selbstverteidigung gehandelt, weil jemand die Terrorherrschaft Morgoths beenden musste. Doch sie bekam das Bild von Shagaz nicht aus dem Kopf, der von seinen Feinden blutend zurückgelassen und erst von einigen, wild lebenden Avari versorgt worden war. Außerdem erinnerte sie sich noch lebhaft an die Abneigung, die sie anfangs gegenüber der Ork empfunden hatte, die nun ihre einzige Freundin war. In welcher Gesellschaft lebte sie eigentlich, dass der Wert eines Wesens so stark von seiner Rasse abhängig war?

Trotz all dieser Gedanken blieb die Tatsache, dass es Elben gewesen waren, die diese Orks zu Krüppeln gemacht hatten. Also hielt sie den Kopf gesenkt und hoffte, nicht als das erkannt zu werden, was sie war. Doch bald fiel ihr auf, dass die Orks ohnehin mehr Interesse an Sauron zu haben schienen. Sie scharrten sich um sein Reittier, brüchige Stimmen priesen und ehrten ihren Meister, der gekommen war um ihnen einen winzigen Teil seiner kostbaren Aufmerksamkeit zu schenken, der sie in ihrem Elend nicht vergessen zu haben schien.

Irgendwo in einem der Häuser schrie ein Kind.
Als Heilerin stieg in Ellen der Wusch auf, von ihrem Trollpferd zu steigen und sich dieser Kreaturen anzunehmen. Die nicht richtig verheilten Wunden zu versorgen, verdrehte Glieder zurechtzurücken und Medikamente gegen die schrecklichen Leiden und Krankheiten zu verteilen, wie sie durch Hunger und Unsauberkeit entstanden. Doch sie konnte sich nicht dazu überwinden, sich dem Elend zu nähern, dessen Zeuge sie hier wurde.

Es dauerte nicht lange, bis Sauron ihnen eine Unterkunft besorgt hatte. Das Wesen, das das Steingebäude in der Mitte des Dorfes bewohnte – es glich einem Menschen mit dunklen Schuppen, langen Gliedmaßen und einem schmalen, schlangenähnlichen Gesicht – schien eine Art Statthalter aus Angband zu sein, der seinem Meister und dessen Gefolge gern für einige Zeit Unterschlupf gewährte. Auch wenn es Ellen bei dem Gedanken, mit dieser Kreatur in einem Haus zu schlafen schüttelte, war sie doch dankbar für das Dach über dem Kopf. Während Búrtak gemeinsam mit Shaglob die Trollpferde versorgte stand sie am Fenster und beobachtete Sauron, wie er zu der vor dem Hauptgebäude versammelten Menge sprach. Er schien aufgewühlt, in seinen Gesten war ein Feuer, wie sie es bisher nur im Zorn an ihm gesehen hatte. Doch die Orks schienen begeistert. Auch nachdem er geendet und sich ins Haus zurückgezogen hatte, standen sie noch in kleinen Grüppchen zusammen, um das gehörte zu diskutieren. Mit gemischten Gefühlen sah Ellen ihnen zu, sodass sie nicht merkte, wie der Dämon hinter ihr den Raum betrat.
„Und ihr haltet euch für so viel besser, als wir," die abfällige Stimme brachte sie dazu, sich vom Fenster abzuwenden.
„Immerhin werden unsere Kriegsopfer nicht zum Verrecken irgendwo in der Wildnis ausgesetzt," erneut verfluchte sie das beschränkte Vokabular der schwarzen Sprache, „was hast du ihnen gesagt? Dass es dir leid tut, dass ihr euch keinen Deut mehr um sie schert?"
„Ich habe ihnen gesagt, dass dieser Krieg bald vorbei sein wird," erwiderte Sauron, „dass es bald eine Welt geben wird, in der sie nicht ausgeschlossen werden, weil es nichts mehr gibt, wovor sie verteidigt werden müssen."
„Weil ihr dann alle Elben massakriert habt?"
„Weil es dann keinen Unterschied mehr macht, wer du bist. Unter unserer Herrschaft gibt es keine Unterschiede. Es ist egal, welche Rasse du hast, oder wer deine Vorfahren waren. Niemand würde dich dafür verurteilen, mit einer Ork befreundet zu sein."
Das war in der Tat eine schöne Vorstellung, die so gar nicht zu dem skrupellosen Tyrannen passen wollte, für den Ellen den Dämon hielt. Sie war zuvor nicht auf den Gedanken gekommen, dass dieser Krieg, dieses Gemetzel zwischen Orks und Elben, einen anderen Sinn haben könnte, als den, die Gegenseite nach Möglichkeit auszurotten. Dass es vielleicht sogar richtig war, diese Welt brennen zu lassen, um aus der Asche eine bessere zu formen. Eine, in der es keinen Krieg mehr geben würde.
„Das ist dein Wunsch," wollte sie von Sauron wissen.
„Das ist mein Ziel," erwiderte dieser fest, „und ich werde nicht aufhören, bis ich es erreicht habe."
Ellen nickte, beinahe verständnisvoll.
„Ist das der Grund," sie beschloss spontan, dass sie mutig genug war, diese Frage zu stellen, „Ist das der Grund, dass du bei ihm bleibst, obwohl er dir wehtut?"
Sie wussten beide, dass sie sich auf Morgoth bezog. Auf die Erinnerung, die sie in Saurons Geist gesehen hatte. Einige Sekunden schien der Dämon abzuwägen, wie viel er von dem, was er empfand preisgeben wollte. Dann gab er Ellen ein Zeichen und sie ließen sich auf den Stufen nieder, die von diesem Zimmer aus in den Keller führten.
„Das, was du gesehen hast," begann der Dämon, wobei sich ein Schatten über sein Gesicht legte, „hat sich noch vor der Nirnaeth abgespielt. Ich hatte von meinem Meister die Verantwortung für den Stützpunkt auf Tol Siron übertragen bekommen. Er hat sein Vertrauen in mich gelegt, hat sich auf mich verlassen, und ich habe ihn enttäuscht," der Ausdruck in seinen Augen wurde bitter, „wegen einer Elbe und eines Menschen!"
Es irritierte Ellen, wie er über seine Rolle in einer der Größten Erzählungen der Elben, sprach, als handle es sich um Nebensächlichkeiten. Eine Elbe und ein Mensch. Respektloser ging es ja wohl nicht!
„Ich habe die Schmerzen verdient. Ich... es war meine Pflicht zu ertragen, was mir für mein Versagen zustand, da ich auch Belohnungen von ihm annehme."
Geschockt schüttelte Ellen den Kopf. Die Erinnerungen an die Vision waren noch zu lebhaft, als dass sie sie einfach hinnehmen konnte: „Niemand sollte so etwas ertragen müssen und du bist intelligent genug, das zu wissen," bei diesem Kommentar presste der Dämon die Kiefer aufeinander, als habe sie ihm gerade Schmerzen zugefügt. Es war nicht das erste Mal, dass er mit diesem Gedanken konfrontiert wurde, „warum bleibst du bei ihm? Warum tust du dir das an?" Ellens Blick glitt wieder in Richtung Fenster, „Und ihnen?"
Es sah nicht so aus, als würde Sauron ihr Antwort geben wollen, doch letztlich tat er es. Tatsächlich und ohne Vorwarnung begann er, zu erzählen.

Lenda i MorielenweWo Geschichten leben. Entdecke jetzt