Kapitel 1 - Laskina

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Es war kalt, viel zu kalt, um einschlafen zu können. Laskina klammerte sich enger an Atimis, der seelenruhig neben ihr im Bett schlief. Der Wind pfiff durch die Ritzen ihrer Holzhütte und Laskina zog sich die Decke bis über den Kopf. Sie schmiegte sich enger an Atimis. Er brummte leise, legte den Arm um sie und schlief weiter. Laskinas Augen jedoch sprangen wie von allein wieder auf, wenn sie sie schloss und so betrachtete sie ihren Verbundenen genauer. Auch wenn sie Atimis schon in- und auswendig kannte, sah sie ihn gern an. Er war groß und stark, zumindest so stark ein Niederer Mensch eben sein konnte. 

Auch wenn sie beide recht gut verdienten im Vergleich zu anderen, war das Gold knapp und es reichte kaum für genug zu Essen. Atimis schulterlanges, braunes Haar fiel ihm ins Gesicht und wie automatisiert schob sie eine Strähne mit dem Finger hinter sein Ohr. Er bemerkte es nicht, denn sein Atem blieb ruhig und gleichmäßig. Laskina legte ihre Hand an seine fahle Wange, was ihn zucken ließ. Eilig zog sie die Hand wieder zurück, umklammerte sich selbst und schloss die Augen. Sie musste dringend schlafen, denn es lag ein anstrengender Tag vor ihnen. Morgen war Sonntag, was bedeutete, dass sie nicht zu Arbeit mussten, sondern Besuch von den Regierungsmitarbeitern bekamen, die dafür sorgen sollten, dass hier in ihrem Slum Ruhe und Ordnung herrschte. Atimis nannte sie wie die meisten anderen auch „Die Elstern", denn er empfand sie als lästige Biester, die ihnen auch noch den letzten Groschen abnahmen, den sie nicht gut genug versteckten. Natürlich sagte er es nicht laut, denn dafür würde er womöglich eine Prügelstrafe bekommen. Nicht seine erste, denn allzu oft hatte er schon seinen Mund nicht halten können und den Elstern abfällige Dinge an den Kopf geworfen.

Laskina schüttelte es und wie automatisiert wanderte ihr Blick zu den Narben auf seiner Brust, die noch rot leuchtend aus seinem Hemd herausragten. Vor gar nicht langer Zeit hatte Atimis versucht, einige Goldmünzen vor den Elstern zu verstecken, die der Hohe Mensch, für den er arbeitete, ihm zugesteckt hatte. Laskina hatte davon nichts gewusst, denn wenn sie es getan hätte, wäre auch sie geschlagen worden. Atimis hatte die Münzen in seinen Socken versteckt, doch als könnten die Elstern seine Gedanken lesen, hatten sie ihn gezwungen, sich bis auf die Haut auszuziehen. Natürlich hatten sie die Münzen gefunden und dreckig grinsend mitgenommen. Ihre Essensration für eine Woche war um die Hälfte gekürzt worden und sie hatten Atimis nach draußen auf den Platz gezerrt und ihn gefoltert. Laskinas Lippe fing an zu zittern und Tränen schossen ihr in die Augen, als sie an seine Schreie dachte, die durch das ganze Slum geschallt waren. Sie wusste nicht, was genau ihm angetan worden war und sie hatte ihn auch nicht gefragt. Doch die fingerlangen, breiten Narben auf seiner Brust waren eindeutig. 

„Schlaf, meine Schöne", murmelte Atimis auf einmal, was sie heftig zusammenfahren ließ. Ihr Herz pochte ihr bis zum Hals und panisch klammerte sie sich an ihm fest. 

„Es ist zu kalt zum Schlafen", sagte sie und suchte Atimis Blick, doch seine Augen waren noch immer geschlossen.

„Na komm her", forderte er und breitete die Arme aus. Eilig rutschte Laskina noch enger an ihn und schmiegte sich an seine Brust. Seine starken Arme legten sich um sie und sie spürte die Wärme, die von ihm ausging. Nicht nur die körperliche, sondern auch die emotionale. Atimis liebte sie und sie wusste, dass er für sie sein letztes Hemd geben würde. Auch sie liebte ihn, aber sie wusste, dass ihre Liebe zu ihm anders war als seine zu ihr. Seine war bedingungslos, offen und warm, während ihre ein wenig überschattet wurde von der Zweckmäßigkeit. Zu zweit war es einfacher, zu überleben. Natürlich war sie ihm verbunden, sie lachten viel in dieser grauen Welt und sie liebte es, seiner Stimme zu lauschen. Allerdings wusste sie, dass er sie nicht allein lassen würde, auch wenn er dadurch Nachteile hatte. Wenn er für ihr Fehlverhalten bestraft wurde, nahm er es als selbstverständlich hin, da er sie beide als eine Einheit sah. Sie hingegen kam sich oft egoistischer vor, denn wenn sie die Chance auf ein besseres Leben hatte, würde sie sie ohne zu zögern ergreifen, auch wenn das bedeutete, von Atimis getrennt zu werden. Er wusste das, doch er schien es in den letzten Winkel seines Bewusstseins zu verdrängen. Doch es war überflüssig, sich darüber Gedanken zu machen, denn ihr Leben würde bis zu ihrem unweigerlichen Ende so aussehen, wie es im Moment war. Sie war ein Niederer Mensch, sie war dazu bestimmt, in Armut zu leben und den Hohen Menschen als billige Arbeitskraft zu dienen. Es war unfair und sorgte für jede Menge Unmut, aber so war es nun einmal. 

Der Biss der SchlangeHikayelerin yaşadığı yer. Şimdi keşfedin