35. Ophelias Sicht

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Triggerwarnung: suicidegedanken

Ophelias Sicht:

Mit aufgerissenen Augen saß ich in meinem Zimmer auf meinem Bett, die Beine abgezogen, die Arme um die Knie geschlungen. Meine Finger zitterten, obwohl ich sie in meine Oberarme krallte.

Aeron hatte mich geküsst. Der Freund meiner Schwester hatte mich geküsst. Der Schwester, in deren Haus ich gerade wohnte. Deren Badezimmer ich benutze, an deren Küchentisch ich täglich saß, deren Leben ich beinahe übernommen hatte. Und deren Freund ich jetzt geküsst hatte. Im Regen, bei Nacht.

Meine Brust zog sich unangenehm zusammen und ich rieb mir über die Stirn. Aus meinen Haaren tropfte noch immer Regen und lief mir über den Rücken. Mein Oberteil und meine Hose lagen klatschnass vor dem Bett, sodass ich in Unterwäsche dasaß.

Aeron und Emilia haben sich getrennt, versuchte ich mir mein schlechtes Gewissen kleinzureden. Sie haben sich getrennt, weil sie ihn betrogen hat. Aber das war keine zwei Wochen her. Wieso hatte er mich dann bitte schön geküsst? Sie hatten am Flughafen so glücklich gewirkt. Aeron hatte glücklich gewirkt. Wollte er sich dadurch vielleicht bei Emilia rächen? Sie auch verletzen?

Gott, ich fühlte mich krank. Ich kuschelte mich so wie ich war in meine Bettdecke und presste die Augen zusammen. Während ich mich auf meine Atmung konzentrierte, versuchte ich verzweifelt nicht nachzudenken. Einfach nur weiter zu atmen.

Manchmal war es so anstrengend zu leben. Und ich liebte meinen Vater und ich liebte Cam. Aber es war manchmal einfach so schwer am Leben zu sein. Und es gab immer mal wieder Momente, da dachte ich darüber nach, wie befreiend es wäre es eben nicht mehr zu sein.

Es wäre kein Kampf mehr gegen mich selbst und gegen die ganze Welt. Aber ich wollte und konnte mir selbst nichts antun. Weil ich meinen Vater damit umbringen würde. Es würde sich außerdem anfühlen wie aufgeben.

Aber wenn ich mir dann vorstellte, dass es mir einfach passierte, wie zum Beispiel bei einem Autounfall oder ähnlichem, dann war ich nicht selbst schuld daran. Dann würde mein Vater trotzdem leiden, Cam wäre am Boden zerstört, aber es wäre nicht gewesen, weil ich aufgegeben hatte. Es wäre einfacher zu akzeptieren.

Ich schüttelte den Kopf, um meine Gedanken zu verscheuchen, doch es passierte automatisch, dass ich an meine Tante dachte. Das Blut, dass am Anfang mit jedem Herzschlag aus ihrem Hals gepumpt wurde, dass über den Boden auf mich zu floss.

Die Nachttischlampe fiel zu Boden, als ich keuchend aus dem Bett kletterte. Ich schaffte es gerade noch ins Bad, bevor ich mich in die Toilette übergab. Ich hasste mich nach solchen Gedanken noch mehr als vorher. Weil es egoistisch war so zu denken. Weil ich egoistisch war.

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Am nächsten Morgen saß ich am Küchentisch und sah meiner Mutter dabei zu, wie sie gehetzt durch den Raum lief, die Arbeitstasche unter den einen Arm geklemmt, einen Kaffee in der anderen Hand.

>> Die Schule hat gestern angerufen. Sie sagen deine Fehltage häufen sich und das wirft kein gutes Bild auf die ganze Familie, ist dir das klar? <<

Ich sah überrascht auf, weil es das erste Mal heute war, dass sie mit mir sprach. >> Oh <<, murmelte ich, weil mir mehr nicht einfiel.

>> Du warst die gesamte letzte Woche nicht in der Schule. Nutzt du es aus, dass ich den ganzen Tag arbeite und das nicht mitbekomme? << Ihr Hin- und Hergelaufe war zum Stillstand gekommen und sie hatte sich nun regelrecht vor mir aufgebaut.

Während ich zu ihr hochsah, fiel mir die Ähnlichkeit die sie zu Emilia hatte auf. Ich hatte Emilia jetzt persönlich gesehen und sie war meiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Ich presste die Lippen zusammen und hob das Kinn etwas an. >> Mir ging es nicht gut. Ich hatte Probleme mit… mit der Atmung. Und der Psyche. <<

Meine Mutter war es gewesen, die den Krankenwagen gerufen hatte, als ich auf ihren Beinen gelegen hatte und nicht atmen konnte. Es brachte also nichts, es ihr zu verheimlichen.

Sie blieb still und musterte mich einen Moment lang. Dabei zog sie die Augenbrauen zusammen und auf ihrer perfekten Haut erschien eine kleine Falte auf der Stirn. >> Okay. << Mehr sagte sie nicht, dann drehte sie sich um und verließ die Küche.

Ich schaute bestürzt auf die Tischplatte vor mir und griff nach meinem Wasserglas. Wie konnte man einer Mutter so egal sein?

Ich lenkte mich bis ich zur Schule musste damit ab, dass ich mit Cam schrieb und wir Szenarien erschufen, was wir nach der Schule zusammen machen würden. Zusammenziehen zum Beispiel. Oder einen Hundefriseursalon eröffnen. Ein Hundecafe. Doch als wir aufhörten zu schreiben, fühlte ich mich nur noch einsamer als vorher.

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Lotte saß im Unterricht auf ihren typischen Platz neben mir. Sie war wie immer zu spät gekommen und saß jetzt mit vom Laufen geröteten Wangen auf ihren Stuhl. >> Ich stehe um fünf Uhr auf. Manchmal früher. Ich weiß selbst nicht, wie ich es jeden Tag schaffe, zu spät zu kommen. Gestern hat die Schule sogar bei mir zuhause angerufen <<, maulte sie und packte ihre Schulsachen aus.

Während sie sie auf dem Tisch ausbreitete, beendete ich den Satz, den ich mitgeschrieben hatte. >> Bei mir haben sie auch angerufen. Weil ich so selten in der Schule bin. Meine Mutter war wirklich sauer heute Morgen. <<

Lotte schnaubte genervt. >> Vielleicht war gestern wieder der Tag im Jahr, wo sie die Problemschüler anrufen mussten. Und du gehörst wohl jetzt offiziell auch dazu. <<

Während ich sie von der Seite betrachtete und sie so das Gesicht verzog, fiel mir die Ähnlichkeit die sie zu Aeron hatte auf und ich räusperte mich, als sich die Bilder von allein vor meinen Augen abspielten. Aeron, der meine Unterlippe zwischen seine Zähne saugt. Der meinen Hals markiert. Der meinen Nippel in den Mund nimmt.

Mir wurde schlecht. Was würde Lotte dazu sagen? Ich wollte und konnte es ihr nicht verheimlichen. Deshalb schluckte ich einmal kräftig und holte tief Luft.

>> Lotte kann ich heute kurz vorbeikommen? Ich muss dir noch etwas sagen. <<

AERON - Vom Tod geküsstWhere stories live. Discover now