1. Kapitel: Füße über dem Boden weggezogen

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Februar 2130
Young New York City, Queens
Ginger Dove Diner

"Scheiße", flüsterte Wynona, als sie in ihre Tablettendose reinschaute. "Wynona's Candybar", wie ihre Kollegen es liebevoll nannten. "Scheiße", zischte sie nochmal leise. Dabei fluchte sie nicht oft.

In der metallenen Dose lagen nur noch zwei einsame Kopfschmerzkapsulen und keine einzige Antidepressiva. Sie seufzte. Hätte sie heute morgen dran gedacht, sie früher zu nehmen, hätte sie in der Mittagspause Zeit gehabt, um in der Apotheke neue Tabletten zu kaufen.
Aber auch das hätte nicht funktioniert, denn die Apotheke kam letzte Woche bei einer Ausraubung zu Schaden. Vielleicht sollte sie auf einen neuronalen Reizstromchip sparen, um wenigstens die Kopfschmerzen aufzulösen.
Würde, hätte, könnte-
Das alles half ihr nun auch nicht weiter.

Sie hing ihre fettige Schürze auf den Kleiderhaken, zog sich ihre synthetische Jacke an, hob ihre Ledertasche auf und meldete sich am Mitarbeiterausgang via Angestelltenkarte beim Diner ab.
Das Licht ließ sie noch für ihre Kollegen angeschaltet.

Draußen fror Wynona instant. Es war ein feuchter, kalter Winter gewesen und ihre dünne Jacke stellte keinen Temperaturregulator zur Verfügung. Wenigstens besaß Logan, ihr Sohn, solch eine Jacke. Sie strich mit ihren Schuhen über den schlammigen Schnee. Es war nur kalt und ihre Wohnung war nicht weit vom Diner entfernt. Besondere Cyberware hatte sie für einen Raub nicht zu bieten, wobei ihre Ledertasche eine richtige Wertanlage war. Sie lief weiter, hielt sich in Menschenmengen und dachte darüber nach, was sie wohl heute Logan zum Einschlafen vorlesen könnte.

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Autohupen, Uringeruch, Regentropfen auf der Haut. Der junge Mann öffnete seine Augen und setzte sich, so gut es ging, auf. Seine verschwommene Sicht klärte sich allmählich, und als er abgetrennte Gliedmaßen unter und um sich erkannte, sprang er auf und schrie. Ein schiefes, ohrenbetäubendes Schreien, wie bei einem Säugling oder einem Gehörlosen. Durch seinen wackeligen Stand kippte er nach vorne um und durfte feststellen, dass die Gliedmaßen künstlich waren. Der Mann hörte auf zu schreien und wimmerte nur, schaute sich um, sah außer ungewöhnlich vielen Prothesen auch viel Elektroschrott und nahm zur Kenntnis, dass er sich wohl oder übel auf einem Schrottplatz befand. Die Nacht näherte sich, und er wollte ungern diese bei einem Schrottplatz verbringen;
Besonders wenn er nicht wusste, wieso er hier war oder wer er selber eigentlich war.

Mühsam kämpfte er sich durch den ganzen Müll hindurch, steckte öfters fest oder verlor sein Gleichgewicht. In seinem Kopf drehte sich alles nur um die Frage, wo er war und was er als Nächstes tun sollte. Nach einer Weile traf er auf eine Zaunmontage, ungefähr 5 Köpfe höher als er selbst, dahinter eine hochbeschäftigte Straße. Weit und breit war kein Tor oder ein Fußgänger zu sehen, also entschied er sich dafür, einfach rüberzuklettern. Es stellte sich nicht als besonders schwierig heraus;
Er konnte sein Gewicht mühelos tragen, kletterte wie ein Äffchen auf die andere Seite. Von der vorherigen Schwierigkeit über den Schrottplatz zu laufen, war nun nichts mehr zu sehen. Er war wieder Herr seines Körpers.
'Gottseidank ist kein Stacheldraht am Zaun dran', dachte er sich erleichtert.
Dass auf einem Schild, wenige Meter entfernt, "Achtung, Elektrozaun: AC 50" stand, hatte er nicht gesehen.

Er war absolut begeistert und verängstigt zugleich. Im Dunkeln leuchteten Billboards und holografische Aufnahmen, über fast jedem Gebäude. Die bunten, flackernden Farben luden ihn dazu ein, jede Ecke zu erkunden. Die Autos waren geschmeidig, hatten leuchtende Streifen und bei näherer Betrachtung nahm er zur Kenntnis, dass sie leicht über dem Boden schwebten. Ein Blick in den schwarzen, sternenlosen Himmel und er sah sogar Autos im Himmel.
Eins davon, ein blau-weißes, flog zu einem Balkon. Plötzlich sprangen drei bewaffnete Gestalten mit weißer Schutzausrüstung aus der Maschine, zerschmetterten gewaltsam die Balkontür und stürmten in die Wohnung. Es schien niemanden in der Umgebung zu interessieren, obwohl die weißen Gestalten kurz danach mit einer Leiche zurückkamen und sie in den Wagen beförderten.
Generell schien es, als dass die Leute unten nicht viel Interesse an irgendwas zeigten. Sie lungerten in Seitengassen rum oder liefen ziellos in Gruppen umher. Im Gegensatz zu ihren uninteressanten Tätigkeiten sahen sie sehr interessant aus. Prothesen, Körpermodifikationen und ungewöhnliche Kleidung schienen beliebt zu sein.

Identity: Lost PurposeOpowieści tętniące życiem. Odkryj je teraz