3. Kapitel: Der frühchristliche Pfau

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Young New York City, Queens
Ginger Dove Diner

Wochen waren vergangen, in denen er beobachtet war. Die Möglichkeit zu fliehen gab es nicht, war er doch stets umzingelt. Als an seinem ersten Tag schon Polizisten vor der Tür des Diners standen und nach Geflüchteten suchten, war klar, dass er sich bedeckt halten müsste. Das höchste Maß an Privatsphäre stand ihm in Wynonas Wohnung zu, wenn sie und Logan auch im Haus waren. Flucht hätte auch zu nichts geführt. Seine einzige Hoffnung, die Polizei, würde ihn zur Themsis führen. Eigentlich wusste Seraphim nicht, was ihn dort erwarten würde, aber er wollte es auch nicht wissen. Allein die Tatsache, dass sie seinen Körper, bis auf sein Gehirn, komplett ausgetauscht haben, schürte in ihm Angst vor dem Institut.

An dem Tag, an dem Leutnantin Tsegmid ihm erklärte, dass er das "Fullborg-Projekt" war, wurde er wütend. Er wusste nicht auf wen oder was, aber er gab instinktiv den Leuten im Diner die Schuld. Vielleicht weil sie seinen Zustand unverblümt als Mittel zum Zweck für ihre ... Organisation, oder was auch immer es war, betrachteten und es ihm direkt sagten. Die Wut, die er sich nicht erklären konnte, wandelte sich in Ignoranz um. Die nächsten Tage versetzte er sich wieder in die Trance, die er bei Erwachen durchlebte, und ignorierte seinen neuen Körper. Er aß und trank, obwohl er weder Durst noch Hunger hatte, zwang sich dazu, menschliche Fehler zu machen, um sich von seiner Misere abzulenken. Er schenkte seinem Problem keine Beachtung und rann weg von dem dämmerndem  Gefühl, dass er schon bald der Wahrheit ins Gesicht sehen muss. Bis dahin würde er im Schutz der Ignoranz schwelgen, die Wirklichkeit im Hinterkopf pochend.

Er konnte nicht hinwegblicken, wie geschickt ihm alles geling. Er konnte und durfte nicht untätig bleiben, auch wenn er eher unfreiwillig im Diner blieb. Er arbeitete im Diner als Küchenjunge oder half Logan zuhause bei den Hausaufgaben, auf dem tabletartigen Gerät, das man in einen kompakten Stick falten konnte. Ihm fiel nichts aus der Hand und er stolperte, trotz seiner hohen Geschwindigkeit und den vielen Aufgaben in der Küche, nie. Weder das Diner noch der Untergrund beachteten ihn, hielten ihn für einen Serviceandroiden, oder einen individualisierten Androiden, nur nie für einen Menschen. Dafür waren seine Bewegungen zu maschinell, sein Blick zu hypnotisch und beinahe unheimlich.

Er wurde nicht zur Kenntnis genommen. Es waren nur Wynona und Logan, die ihn anlächelten und abends mit ihm etwas unternahmen. Dr. Karim, der ihn geröngt hatte und die Botschaft an Leutnantin Tsegmid erteilte, traf er selten flüchtig im Diner, bevor sich der Arzt in den Untergrund verzog.
Khorshid ignorierte ihn auch nicht , obwohl Seraphim das lieber wäre. Für alles wurde er getadelt. Es grenzte an ein Wunder, wie der große Kerl immer einen Fehler bei ihm fand, obwohl er dafür nichtmal die physischen Voraussetzungen aufwies. "Bind' dir die Haare zusammen, die fallen ins Essen", obwohl seine Haare in die "Kopfhaut" geklebt wurden, oder "Schau nicht immer so, als ob jemand deine Großmutter gekillt hätte", wenn er für eine Sekunde in die Leere starrte. In die Leere starren tat er oft.

Der März war gekommen und mit ihm auch ein wechselhaftes Wetter zwischen Hitze und kühlen Nebeltagen. Heute war es eher heiß, aber Seraphim konnte die Klimaanlage im Diner genießen. Er wollte schon aus der Küche eilen, um das Geschirr auf den Tischen abzuräumen, als Wynona ihn hinter die Waschgeräte schubste. Sie hatte eigentlich nicht die Kraft, um ihn zu schubsen, schließlich wog er mehr oder weniger über 90kg, doch er ließ locker und ließ sich schubsen. Er hatte in der kurzen Zeit, in der sie sich kannten, gelernt, Wynona beinahe komplett zu vertrauen. Es war irrational, denn auch sie gehorchte Leutnantin Tsegmid und achtete darauf, Seraphim nicht rauszulassen. Aber sie war ihm beinahe mütterlich und genau das fehlte Seraphim.

"Duck dich und sei leise. Geh am besten hinter den Kühlschrank", flüsterte sie und lief eilig mit einem Tablet raus. Die Tür zur Küche ließ sie einen Spalt offen. Seraphim schlich, beinahe auf Knien, zum Kühlgerät neben der Tür um beim Geschehen mitzuhören.

Identity: Lost PurposeWhere stories live. Discover now