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𝓘ch friere ein bisschen am offenen Fenster, doch dieses Gefühl ist gerade zweitrangig für mich. Mir hat die frische, friedliche Luft gefehlt.

Etwas ungeschickt wende ich meine beinahe fertig genähte Bluse, um ihr den letzten Schliff zu verpassen. Und wie ich so nähe und nach dem Schnee aufblicke, steche ich mir mit der Nadel in den Finger, und es fallen drei Tropfen Blut in den Schnee. Und weil das Rote im weißen Schnee so schön aussieht, denke ich mir: Letztendlich bluten wir doch alle dasselbe königlich rote Blut. Und dennoch entschied allein mein Glück darüber, dass ich ein menschliches Leben mit Protz und Prunk führen durfte..."

Doch auch das größte Glück auf dieser gottverdammten Welt konnte mich nicht in ein System der Unterdrückung pressen. Das bin einfach nicht ich - und werde es auch niemals sein. "Es ist leicht das System zu kritisieren, wenn man selbst im Warmen sitzt", sagten sie alle. Und jetzt sitze ich hier, im Distrikt 12, und führe das normalste bürgerliche Leben, bei dessen Anblick sie nur die Nase rümpfen würden.
Einzig und allein mein Bruder, Sejanus, verstand mich und wich damals nie von meiner Seite. Manchmal bereue ich es tatsächlich, das Kapitol verlassen zu haben... so ganz ohne jeglichen Abschied von meinen Freunden und meiner Familie.

Das süße Wörtchen "verlassen" ist allerdings mächtig untertrieben. Auch der Begriff "untertauchen" täte meinem ehrenwerten Abgang vor einem halben Jahr nicht genüge. Ich schlug zwei Friedenswächter vor der Akademie nieder und schmuggelte mich in den Laster, der - wie Sejanus es vorausgesagt hatte - direkt in einen Distrikt fuhr, um den Friedenswächtern genügend Essensration zu verschaffen. Zu meinem Pech erwischte ich einen Distrikt, der im Winter außerordentlich schlecht versorgt wurde - Distrikt 12.
Schon im ersten Moment, als ich die jämmerlich abgehungerten Bewohner sah, war ich mir jedoch sicher das Richtige getan zu haben. Wenn ich schon zu feige bin, in der Akademie gegen die Reichen aufzumucken, so will ich das Ganze wenigstens nicht durch meine Anwesenheit unterstützen.

Und so sitze ich nun hier, mit einer gefälschten Identität eines verstorbenen Waisenkindes und nähe mir mehr Kleidungsstücke. Das beruhigt mich jedes Mal aufs Neue und hält mich bei der Stange, wenn ich mal wieder an meiner Entscheidung zweifeln sollte.
Meistens übernimmt das aber meine liebevolle Pflegefamilie, die mir eine neue Identität besorgt hat und mich aufgenommen hat. Niemals hätte ich mit so einer Gastfreundlichkeit gerechnet. Immerhin müssen sie selbst irgendwie über die Runden kommen - ganz zu schweigen davon, dass ich als ehemaliges Kapitol-Mitglied auch noch Schuld an ihrer Misere bin.

Mir wurde eingetrichtert, dass sie eine feindliche Mentalität haben und nur darauf warten, die Reichen zu stürzen. Was ich hier in den letzten sechs Monaten erleben durfte, hat mir das komplette Gegenteil bewiesen und mir die Augen geöffnet.

ˢᵗᶦᵉᶠᵛᵃᵗᵉʳ "Y/n, Essen ist angerichtet!"
"Ja, sofort!"

Ich springe auf und schließe das Fenster geschwind, um dann die Treppen runter zu hetzen. Schnell spähe ich noch in die Zimmer meiner Stiefgeschwister, damit sie auch zum Essen kommen.
"Auf geht's, Liese ... Tamino..."
Die zwei horchen auf und rennen auf mich zu, um meine Hand zu nehmen. Eine links, einer rechts und wir gehen die Treppen gemeinsam runter ins Esszimmer. Ich habe mir schon immer kleine Geschwisterchen gewünscht - mein Beschützerinstinkt ist wie gemacht dafür. Vielleicht, weil ich Sejanus schon das ein oder andere Mal den Allerwertesten retten musste, obwohl es ja eigentlich andersherum sein sollte.
Ich schmunzle gedankenverloren.

ˢᵗᶦᵉᶠᵐᵘᵗᵗᵉʳ "Na? Was gibt's denn zu schmunzeln?"
"Ach, das Übliche. Die beiden sind einfach zu niedlich.", entgegne ich und zwinkere Liese und Tamino zu.
ˢᵗᶦᵉᶠᵛᵃᵗᵉʳ "Lass dich von ihnen nicht um den Finger wickeln, die zwei haben es faustdick hinter den Ohren, nicht wahr?"
ᵗᵃᵐᶦⁿᵒ "Stimmt doch gar nicht!"
Die beiden kichern und ich verdrehe lächelnd die Augen.

"Gibt es schon Neuigkeiten...?"
ˢᵗᶦᵉᶠᵐᵘᵗᵗᵉʳ "Inwiefern? Ich habe dir die Zeitung von heute auf die Treppe gelegt."
Ich schüttle schnell den Kopf und werfe meinen Stiefeltern einen bedeutenden Blick zu. Sie scheinen ihn sofort deuten zu können und schauen sich zögernd an. Dann seufzt mein Stiefvater.
ˢᵗᶦᵉᶠᵐᵘᵗᵗᵉʳ "Das können wir besprechen, wenn die Kleinen ins Bett gegangen sind. In Ordnung?"
Ich nicke langsam.
Das hat nichts Gutes zu bedeuten.

Nach dem Abendessen und zwei oder drei Gute-Nacht-Geschichten später sind die Geschwisterchen endlich eingeschlafen.
Als ich erneut die Treppe heruntergehe erwarten mich schon meine Stiefeltern mit besorgtem Blick. Ich schlucke schwer.
"Nun?"
ˢᵗᶦᵉᶠᵐᵘᵗᵗᵉʳ "Wir hätten dir keine neue Identität verpassen sollen."
"Ich wäre aufgeflogen, wenn nicht."
ˢᵗᶦᵉᶠᵐᵘᵗᵗᵉʳ "Du hättest dich von deinen Eltern rauskaufen lassen können, das weißt du ganz genau."

Stille.

ˢᵗᶦᵉᶠᵛᵃᵗᵉʳ "Es ist noch nicht zu spät zurückzukehren."
ˢᵗᶦᵉᶠᵐᵘᵗᵗᵉʳ "...ins Kapitol."
Ich kneife meine Augen zusammen und versuche die Fassung nicht zu verlieren.
"Ich gehöre da nicht hin! Lieber gehe ich drauf, als Schuld an eurem Leid zu sein und teilnahmslos zuzuschauen, wie ihr zugrunde geht!"
Mir steigen Tränen in die Augen. Sofort senke ich meine Stimme wieder, um die Kleinen nicht aufzuwecken.

"Ihr müsst das verstehen.", füge ich trocken hinzu.
ˢᵗᶦᵉᶠᵛᵃᵗᵉʳ "Y/n... Du bist kein Märtyrer, nur weil du dich für unseren Distrikt opferst. Die Spiele werden weitergehen wie bisher, nur mit dem kleinen Unterschied, dass du als irgendein unbekanntes Waisenkind von der Welt scheidest und deine Rebellion nutzlos war."
Mein Stiefvater schüttelt den Kopf.
"Was heißt opfern? Es ist noch gar nicht gesagt, dass sie mich auslosen. Ich MUSS bei der Ernte erscheinen, ansonsten gerate ich unter Verdacht."

Meine Stiefmutter bricht in Tränen aus und wimmert leise vor sich hin. Ich nehme sie sanft in den Arm und spreche ihr gut zu.
"Ihr habt alles Erdenkliche für mich getan. Ich verspreche, dass ich nichts Unüberlegtes tun werde."
Sie schluchzt.
ˢᵗᶦᵉᶠᵐᵘᵗᵗᵉʳ "Du musst es uns versprechen, Kind. Wir machen uns jetzt schon unfassbare Sorgen."

Seufzend nehme ich nun beide in den Arm und auch mir entwischt eine kleine Träne. Ich hasse es diesen guten Menschen solche Bauchschmerzen zu bereiten. Doch was bleibt mir anderes übrig? Mein Entschluss, bei der diesjährigen Ernte aufzutauchen, steht längst fest.

"Wann?", frage ich mit einem aufgesetzten Pokerface.
ˢᵗᶦᵉᶠᵐᵘᵗᵗᵉʳ "In einem Monat ist es soweit.", erwidert sie mit zittriger Stimme und schnieft in ihr bereits durchgeweichtes Taschentuch.
Ich nicke und verabschiede mich dann auf mein Zimmer.

Ich reiße das Fenster noch einmal weit auf und atme tief durch. Die Welt scheint so friedlich und still und der weiße Schnee so unschuldig. Sobald er geschmolzen ist und die Welt allmählich wieder auftaut, erinnern uns die Hungerspiele an unser Elend.
Bis dahin bin ich bereit - sowohl körperlich, als auch mental. ✘

𝑾hen blood melts snow ⟜ Coriolanus Snow FanfiktionWhere stories live. Discover now