3 | Daniel

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„Darf ich Ihnen meinen treuen Assistenten Daniel Walters vorstellen?" Mit hochrotem Kopf stehe ich neben meinem Boss auf der Bühne und blicke auf die Menge, die bei meiner Vorstellung höflich klatscht. Der Reporter in der ersten Reihe begutachtet mich interessiert und macht sich Notizen. Na wunderbar, morgen wird alles in der Zeitung stehen. Nur warum stehe ich hier?

„Ich habe Mr Walters heute Abend nicht nur mitgebracht, weil mich mein Date versetzt hat." Mr Grant lächelt und erntet ein paar Lacher. „Ich habe ihn auch gebeten mitzukommen, weil er einer derjenigen ist, die wissen, was es bedeutet, in einem Waisenhaus großzuwerden. Und nun sehen Sie sich ihn an." Mr Grant legt seinen Arm um meine Schultern und zeigt mit seiner freien Hand auf meinen teuren Anzug.

„Es ist nicht wichtig, wo wir herkommen. Es ist nur wichtig, was wir aus dem machen, was wir haben. Und Mister Walters hat jemanden aus sich gemacht. Jedes der Waisenkinder in dieser Stadt sollte die Chance bekommen, etwas aus sich machen zu dürfen. Denn jeder Mensch hat es verdient, seine Stärken zu entdecken und nach den Sternen zu greifen. Und ich weiß, dass wir mit unserer Spende diesem Traum ein Stückchen näherkommen können. Und nun, meine lieben Gäste, ist das Buffet eröffnet."

Eine weitere Frage des Reporters geht in dem Applaus und dem Getümmel unter, das durch den Sturm auf das Buffet ausgelöst wird. Ungläubig, dass mein Chef mich gerade vor so vielen Menschen als Waisenkind geoutet hat, starre ich noch immer auf die Menge, die mich nun nicht mehr beachtet.

Wie konnte er mir das nur antun? Woher nimmt er sich das Recht, meine Vergangenheit zum Gegenstand seiner Ziele zu machen? Wer hat ihm erlaubt, meinen Verlust für seine Wohltäterschafft auszuschlachten? Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie wütend ich gerade bin! Kurz überlege ich, alles hinzuschmeißen und einfach zu gehen. Doch dann spüre ich seine Hand auf meiner Schulter.

„Können wir reden?", fragt er, und ich sehe an seinen Augen, dass er sich unwohl fühlt. Richtig so, denke ich. Er hat gerade echt Scheiße gebaut.

„Ich weiß, das war so nicht abgesprochen. Es tut mir leid, aber ich möchte es dir erklären, Daniel." Natürlich registriere ich sofort, dass er zum Vornamen gewechselt ist. Ein Kribbeln läuft mir über den Rücken. Seit drei Jahren arbeite ich für Mr Grant und in all dieser Zeit hat er mich nicht einmal Daniel genannt. Was hat das wohl zu bedeuten? Muss ich mir Sorgen machen?

Wieder möchte ich eigentlich laut schimpfen und nicke stattdessen. Dann trotte ich folgsam Mr Grant hinterher und er führt mich in einem kleinen Nebenraum, bei dem er die Tür abschließt. Wir sind allein.

„Daniel", sagt er und sieht mich mit seinen großen braunen Augen an. Ich möchte wütend auf ihn sein, doch ich will auch wissen, was er zu sagen hat. Also verschränke ich nur die Arme vor der Brust. Die stärkste Geste, zu der ich gerade im Stande bin, doch er versteht sie. „Ich weiß, dass das, was ich getan habe, nicht richtig war. Ich habe ein privates Geheimnis von dir in aller Öffentlichkeit benutzt, um meine Entscheidung, Spenden für das Waisenhaus zu sammeln, zu legitimieren. Die Wahrheit ist, dass ich dich dazu eigentlich gar nicht gebraucht hätte."

„Sie haben mich also nicht nur mitgenommen, um dieser Veranstaltung den Anschein von Authentizität zu verleihen?", frage ich ein wenig ungehalten. Mr Grant kratzt sich verlegen am Kopf. „Ich verstehe, dass du wütend bist, Daniel. Ich weiß genau, wie du dich fühlst."

„Ach ja?", platzt es aus mir heraus. „Woher willst du wissen, wie ich mich fühle? Woher willst du wissen, wie es ist, ohne seine Eltern aufzuwachsen; wie es sich anfühlt, keine Wurzeln und keine Tradition zu haben und wenn das Einzige, was einem bleibt, ein altes Bild in einem Bilderrahmen ist, das langsam verblasst? Also bitte, sag nicht, dass du weißt, wie ich mich fühle!"

Mr Grant schluckt kurz und scheint sich einen Kommentar zu verkneifen. Mein Ausbruch ist unprofessionell, aber er hat es irgendwie auch provoziert. Auf einmal hebt er seinen Arm und legt seine Hand auf meine Schulter. Sie ist warm und schwer und ich spüre ein leichtes Kribbeln in meinem Bauch, auch wenn ich immer noch wütend auf ihn bin. „Du tust mir unrecht", sagt er sanft, „doch ich verzeihe dir, weil du wütend bist. Doch glaube mir, wenn ich dir sage, dass deine Eltern immer bei dir sein werden, solange die Liebe in deinem Herzen ist." Ich lache bitter auf. Was weiß dieser Mensch schon von Liebe?

„Sie wissen ja nicht mal, wann ihre Mutter Geburtstag hat!", antworte ich patzig.
„Natürlich weiß ich das!", antwortet er streng und ich weiche ein Stück zurück. So sollte ich nicht mit meinem Chef sprechen. Doch auch er senkt für den nächsten Satz seine Stimme. „Natürlich weiß ich das. Jedes Jahr bringe ich an diesem Tag Blumen an ihr Grab!"

Die Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag. „Aber... ich bestelle doch immer...", stottere ich.
„Blumen für meine Pflegemutter, ja! Ich kann mir ihren Geburtstag nicht merken, da sie ihn nie gefeiert hat. Und trotzdem lasse ich ihr durch dich Blumen schicken, weil ich ihr und meinem Pflegevater so unendlich dankbar bin."

„Es tut mir leid!", sage ich aufrichtig. „Das wusste ich nicht!" Nun fühle ich mich schlecht, denn mir wird klar: Als er über mich und die Waisenkinder gesprochen hat, hat er eigentlich über sich gesprochen! Und er hat so viel aus sich gemacht und möchte nun ein wenig von seinem Glück zurückgeben.

„Das muss dir nicht leidtun. Ich hatte sehr viel Glück mit meinen Eltern und mit meiner Pflegefamilie. Doch andere haben das nicht. Und darum, verzeih mir, dass ich dich so vorgeführt habe. Ich war zu feige, zuzugeben, dass auch ich eine Waise war. Ich wollte mich den mitleidigen Blicken nicht aussetzen. Und ich wollte mich nicht in den Vordergrund spielen. Denn es geht hier nicht um meine Person, sondern um die Kinder, die ohne Eltern aufwachsen müssen und zumindest einmal im Jahr ein schönes Weihnachtsfest haben sollen. Einen Tag unbeschwerte Kindheit, das wünsche ich ihnen."

„Und... und woher wussten Sie das von mir?" Ich erinnere mich nicht, diesen Fakt jemals vor ihm oder irgendwem erwähnt zu haben.
„Ich war vor ein paar Monaten im Waisenhaus, um mir den Zustand anzusehen. Ich habe in den alten Unterlagen gewühlt, um zu sehen, wie es meinen Freunden von damals ergangen ist. Dabei fiel mir zufällig deine Akte in die Hände. Ich konnte es kaum glauben, dass ausgerechnet mein Assistent in dem gleichen Waisenhaus gewesen ist wie ich. Wir haben uns knapp verpasst." Er lächelt mich an. „Ansonsten wären wir wohl damals schon Freunde geworden."

„Freunde? Ich bin immer noch ihr Assistent, Mr Grant." Mr Grant schüttelt den Kopf. „Sag doch bitte Gary zu mir, wenn wir allein sind. Und nein, für mich bist du nicht nur ein Assistent, Daniel. Für mich bist du eine der wertvollsten Personen in meinem Unternehmen. Denn du hast von Anfang an keine Spielchen gespielt, du hast dich nicht angebiedert und nicht rumgeschleimt. Und du hast dabei nicht nur deinen Job gemacht. Ich hatte immer das Gefühl, dass du genau weißt, wie ich mich fühle und dass es okay war, auch mal keine gute Laune zu haben. Das Gesicht, dass ich der Welt zeige, ist nur das, was ich die Welt glauben lassen möchte. Die wenigen Minuten, die ich nur mit dir in meinem Arbeitszimmer verbringe, kann ich durchatmen und auch mal andere Gefühle zulassen. Gefühle, die ich nicht allen zeige. Bei dir fühle ich mich einfach nur wohl und sicher. Du hast es vielleicht nicht gemerkt, aber in meinem Gedanken bin ich Bruce Wayne, und du mein Alfred."

Geschockt lausche ich dieser Beichte und weiß gar nicht wohin mit meinen Gefühlen. Er mag mich und er ist bei mir er selbst? Das stellt mein ganzes Weltbild auf den Kopf! Die ganze Zeit hatte ich angenommen, dass Gary seine schlechte Laune an mir auslässt, weil ich ihm egal bin. Doch das genaue Gegenteil ist der Fall und ich kann meine Zuneigung zu ihm nun nicht mehr leugnen. Verwirrt blaffe ich ihn an. „Und was ist mit meinen Gefühlen, Gary? Warum musst du mich damit verwirren, dass du mir sagst, dass du mich magst? Das macht es nur kompliziert für mich!"

„Was ist denn daran kompliziert, Daniel? Ich dachte, du wüsstest, wie sehr ich dir vertraue. Ich habe dir immer alle wichtigen Aufgaben gegeben. Erst heute Nachmittag hast du etwas wirklich Wertvolles in den Händen gehalten und es nicht einmal gemerkt."

Ich bin verwundert. Meint er das Paket von der Post? Doch ehe ich fragen kann, greift er in seine Sakkotasche und hält mir dann seine Hand hin. Neugierig sehe ich zu, wie er sie öffnet.

A Merry Gary ChristmasWhere stories live. Discover now