4 | Gary

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„Als ich im Waisenhaus deine Akte gefunden habe, begann ich, ein wenig zu recherchieren. Als deine Eltern starben, warst du vier und hattest keine Verwandte. Also hat man die Habseligkeiten deiner Eltern erst einmal eingelagert. Man hätte sie dir zurückgeben müssen, wenn du adoptiert oder volljährig geworden wärst. Doch du bist weggelaufen und so befand sich in einer kleinen Schachtel im Keller des Hauses noch immer dieser Schatz, den ich dir nun endlich zurückgeben kann."

Mein Herz klopft wild in meiner Brust, als Gary mir diese Geschichte erzählt. Ich habe mich immer gefragt, ob meine Eltern mir irgendwas hinterlassen haben. Aber die Heimleitung meinte, dass es da nicht viel gegeben hätte und dass das Vermögen von den laufenden Kosten des Waisenhauses aufgefressen worden wäre. Niemals hätte ich noch daran geglaubt, dass etwas in den Keller war, doch nun öffnet sich Garys Hand, und eine alte goldene Taschenuhr kommt zum Vorschein.

„Das ist die Uhr meines Vaters", fällt mir auf und ich nehme sie vorsichtig aus den Händen meines Gegenübers. „Ich kenne sie von dem Bild, auf dem meine Eltern mit mir als Baby abgebildet sind. Er trägt sie um den Hals. Sie muss ihm viel bedeutet haben."

„Ich habe sie zur Untersuchung an einem Fachmann geschickt", erklärt Gary und nimmt meine Hand, um auf den kleinen Knopf zu drücken, der die Uhr öffnet. Seine Finger sind weich, und ich sehe ihm kurz in die Augen. So viel Liebe liegt darin, die ich bisher nicht gesehen habe. Mir diese Taschenuhr wiederzugeben, scheint ihm beinahe genauso viel zu bedeuten, wie mir, sie in meinen Händen zu halten.

„Diese Uhr ist sehr alt und aus echtem Gold, Daniel. In ihrem Deckel sind die Namen ihrer Besitzer eingraviert. Es sind vier, und der letzte ist deiner. Dein Vater wollte, dass du diese Uhr bekommst. Er hat deinen Namen in diese Uhr eingravieren lassen und sie immer nah an seinem Herzen getragen. Und wenn du möchtest, kannst du nun seinen Namen nah an deinem tragen."

Überwältigt von meinen Gefühlen schaue ich auf die wunderschöne Uhr und auf die Namen im Deckel. Als ich den meines Vaters lese, läuft mir eine heiße Träne über die Wange. So lange habe ich nicht an die Namen meiner Eltern gedacht. Ich habe versucht, irgendwie damit abzuschließen und fast schon verdrängt, dass ich keine Eltern habe. Aber natürlich ist es Unsinn. Der Schmerz über ihren Verlust war immer da. Genau wie die Hoffnung, irgendwann jemanden zu finden, der mich so liebt, wie meine Eltern es getan haben.

„Freust du dich?" Die Frage holt mich aus meinen Gedanken. Ich nicke. „Ich glaube, das ist das beste Weihnachtsgeschenk, das ich je bekommen habe", antworte ich und lächle Gary an, der liebevoll zurücklächelt. Dann, aus einem spontanen Impuls heraus, gehe ich auf Gary zu und umarme ihn. Sofort spüre ich, dass auch er seine Arme um mich schließt und mich an sich drückt. Eine ungekannte Wärme durchfließt meinen Körper und ich vergrabe meinen Kopf kurz an seiner Brust.

„Daniel", flüstert er und ich bekomme eine Gänsehaut. Seine Stimme ist plötzlich so sanft und ich denke daran, was er über die Gefühle gesagt hat, die er nicht jedem zeigt. „Ja, Gary", antworte ich ebenso leise, als könnten laute Worte unsere Zweisamkeit zerstören.

„Ich habe dir vorhin nicht ganz die Wahrheit gesagt", gibt er zu. „Du bist nicht Alfred. Denn Batman hat keine Gefühle für seinen Butler, wie ich welche für dich habe. Schon eine Weile spüre ich, dass da mehr als bloße Zuneigung ist, darum habe ich versucht, eine professionelle Distanz zu wahren. Und obwohl ich weiß, dass es falsch ist, will ich, dass du es trotzdem weißt. Keine Geheimnisse mehr."

Ich lächele in mich hinein. Wird gerade mein Traum war? Ist der Mann, den ich seit Ewigkeiten sowohl verehre wie hasse in wenigen Minuten zu einem netten Menschen geworden, der fähig ist, zu lieben? Mich zu lieben?

„Was ist mit all diesen One-Night-Stands?", frage ich, das Gesicht noch immer auf Höhe seiner Brust. „Die sind nicht du, Dan. Dich müsste ich nicht zurückrufen. Bei dir würde ich bleiben."

Aufgeregt sehe ich auf und blicke in die warmen Augen meines Bosses und nun wohl auch Freund, der mich fast schüchtern anlächelt. Soll ich? Soll ich wirklich meinen Chef küssen? Eigentlich halte ich nicht viel von diesen „Fuck the Company"-Geschichten, doch nun stecke ich selbst mitten in einer drin. Doch dieser Boss ist nicht wie die anderen. Es ist meiner und ich will ihn. Egal, ob es verrückt ist, oder nicht. Also strecke ich mich zu ihm hoch und er kommt mir lächelnd entgegen.

Wie lange wir schließlich eng umschlungen und uns küssend in diesem Zimmer stehen, weiß ich nicht. Aber ich weiß, wer am nächsten Morgen noch immer neben mir liegt und mich mit einem sanften Kuss weckt. Und wer eine Woche später mit mir gemeinsam einen dicken Scheck an das Waisenhaus unserer Kindheit übergibt...

A Merry Gary ChristmasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt