01 - Miksith

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Will

Meine Schritte klangen seltsam hell und hohl auf dem kalten Steinboden, als ich den Flur entlangschritt. Hohl und hell, wie kleine, metallene Glocken.
Ich hielt den Blick auf meine Füße gesenkt, die in festen kurzen Stiefeln steckten - die Schuhe und die Kleidung, die wir alle zugeteilt bekommen hatten. Sicher, wenn ich meine eigenen hätte behalten wollen, hätte ich auch das gedurft, aber ich war sehr froh gewesen, in ein frisches, weites Hemd und lange, dunkle Hosen schlüpfen zu können. Es war sinnlos, sich an irgendetwas festhalten zu wollen, was zu meinem alten Leben gehört hatte. Mein altes Leben war vorbei, und die Fehler, die ich gemacht hatte, würde ich wieder vergessen.

Mein Blick wanderte über die kahlen weißen Wände, in die genauso kahle, genauso weiße Türen eingelassen waren. Die silbrigen Buchstaben darauf glänzten im Licht, das den Gang entlangfiel. Vorsichtiges, halbdunkles Tageslicht war es, doch bald würde es ganz verlöschen.
Wie ein unauffälliger Begleiter schob sich mein Schatten darin hinter mir her, den weißen, tadellos gesäuberten Flur entlang, klebte an meinen Schuhen fest und ließ nicht los.

Das hellgelbe Licht fiel durch ein großflächiges Fenster am Ende des Korridors hinein. Fein säuberlich geputzte Glasscheiben baten es in den kleinen runden Raum hinein, der hier lag, und weiße Rahmen malten Kästchen wie Schatten auf den hellen Boden. Eine kleine Couchlandschaft, bestehend aus zwei Sesseln, einem niedrigen Tisch und einem Sofa, war dahinter platziert, und auf der Glasplatte davor stand ein Glas Wasser.Am Fenster stand eine dunkle Gestalt, eine weibliche, und sah in die Abendsonne hinaus. Sie trug eine enge, aber lange weiße Hose und eine blaue Jacke mit Kapuze – blau und weiß, die Farben des Winters.

»William.« Dieses Wort hörte sich so neutral an und klang gleichermaßen wie eine Glocke, die man einmal anschlug und deren Ton dann langsam verebbte. Nicht vorwurfsvoll, nein, nicht vorwurfsvoll und nicht warnend. Aber mir war klar, dass sie wusste, was passiert war. Was ich falsch gemacht hatte. Warum ich Fehler gemacht hatte, und welches Ausmaß diese Fehler hatten.

Ich vertrieb den Gedanken und blieb rechts neben ihr an der Glasscheibe stehen. Mein Blick war auf die Welt dahinter gerichtet – ein Häusermeer, die Dächer bedeckt von pulvrigem Schnee. Zwischen dem Durcheinander aus Stein und Holz suchte sich die Rhona ihren Weg, ein breiter Fluss mit schillernder Oberfläche, deren Silberpapier von kleinen darauf treibenden Booten zerschnitten wurde. Keines der Fenster in den Gebäuden leuchtete, die Scheiben spiegelten die letzten Sonnenstrahlen, die der glühende Ball am Himmelszelt auf das Dächermeer herunterschickte.
Und überall waren die kleinen Lichter. Kleine Feuer, Kerzen, manchmal auch größere Haufen mit brennendem Holz. Nein, es war nicht üblich, in einer Welt aus Winter die Flammen zu entfachen. Es war sogar verboten. Aber sie stellten die ständige Gefahr dar, die Gefahr, dass Cane nicht mehr aufwachen würde. Sie stellten die Angst der Leute dar, der Schatten, die zwischen den Feuern knieten. Ihre Köpfe lagen in tiefem Schnee, ihre Rücken im letzten Abendlicht. Ihre Hände hatten sich auf ihre Münder gelegt, schweigend, feierlich.
Wache hielten sie, Wache, und sie beteten. Ein leises Summen war zu vernehmen, ein Vibrieren, das nun den Raum erfüllte. Wahrscheinlich sangen sie, die Menschen, tausende und abertausende von Menschen.

Ja, Miksith hielt Wache. Die gesamte Stadt hielt Wache, trug Sorge für eine einzige Person. Ein einziges Mädchen, das nur zwei Gänge weiter an Kabel und Röhren angeschlossen war. Eine einzige Seele, die sich selbst immer mehr zerfraß, die sich immer mehr selbst zerstörte und die einfach nicht in ihren Körper zurückkommen wollte.Ich starrte geistesabwesend auf die winzigen Lichtpunkte, die zuckend in den grauen Straßen der Stadt glommen und auf die schwarzen Flecken daneben, auf die silbrige Rhona und auf die Hausdächer, die in der Sonne weiß glänzten. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich die junge Frau neben mir.
Schmale, geschwungene Nase und dunkle Wimpern, hellblaue Iris mit schwarzen Kanten wie splitternde Ränder von Porzellanscherben. Ihre Augen lächelten nicht, doch ihre Lippen waren wie zu einem spöttischen Grinsen zusammengepresst, und sie starrte genauso wie ich auf die Häusersilhouetten von Miksith hinaus.

Winterherzen (II)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt