04 - Neugeburt

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2 Jahre Winterseelen! In diesem Sinne - Happy Birthday, Cane.

Cane

Normale Menschen wissen nicht, wie es sich anfühlt, geboren zu werden.

Jemand, der bei einem Autounfall beinahe gestorben ist, weiß vielleicht, wie es sich anfühlt, wenn man stirbt. So dieser Das-Leben-Zieht-An-Dir-Vorbei-Kram und das ganze Programm.
Als ich gestorben war, hatte ich es nicht einmal gemerkt - das war die eine Variante - oder aber - die andere, die mir viel plausibler erschien - ich war einfach nicht gestorben und es hatte sich deswegen auch nicht so angefühlt. Demzufolge müsste ich dann aber ja das zweite Mal in denselben Körper geboren worden sein, ohne zu sterben.
Aber eigentlich machte das nicht wirklich viel aus, in der Theorie, denn ich war schon vor mehreren Wochen zum zweiten Mal in dieselbe Haut hineingeboren worden. Ich war ein zweites Mal geboren worden, und diesmal mit Eiskräften. Also wer sagte, dass ich nicht auch ein drittes Leben anfangen konnte, im selben Körper, mit derselben Seele?

Es ist nichts Schönes, geboren zu werden. Im Nachhinein wundere ich mich überhaupt, warum Geburtstage gefeiert werden. In diesem Zusammenhang erscheint es mir auch logisch, dass Babys auf die Welt kommen und sofort das Schreien anfangen. Ich hätte auch gern geschrien, aber ich hatte das Gefühl, dass mein Mund noch nicht fertig war und ich meine Stimme noch gut gebrauchen konnte. Aber meine Ohren waren schon da, und meine Kehle war schon da, also hörte ich mit meinen Ohren, und atmete mit meinen Lungen, einfach so, ohne Mund, ohne Nase, einfach aus dem Hals heraus, als wäre da ein Loch.
Den Schmerzen zuzuordnen war da auch eins.
Insgesamt war das Alles so ziemlich das Widerwärtigste, das ich je durchgemacht hatte. Vor Allem, weil ich mich ja nicht mal erinnern konnte, gestorben zu sein.

Die erste Feststellung, die ich tatsächlich machte, als ich wieder zum Denken fähig war, war: Ich atme.
Schon klar, zum Leben gehört viel mehr, Herzschlag, Gehirn und der ganze Kram, aber in diesem Moment war mir einfach nur wichtig, wieder Luft in meiner Brust zu spüren. Ich atme. Ich lebe. Ich bin wieder zurück. Wie Fliegen, oder eher, wie Springen.

Und dann wie Im-Wasser-Aufklatschen.

Eine zweite Feststellung gab es leider nicht, denn in diesem Moment brauste ein ekelerregendes Chaos aus allen möglichen Gefühlen, Emotionen, Gedanken und physischen Wahrnehmungen auf mich ein. Eine Art Übelkeit, begleitet von dem Gefühl, die Kehle mit dickem, fest gewordenem Ton zugestopft zu haben, der meinen Hals und meinen Kopf störrisch nach unten zog. Gleichzeitig Muskelkater in gefühlt jedem einzelnen Teil meines Körpers, selbst in den Wangen und Fingern und Fußzehen und an Stellen, an denen ich nie gedacht hätte, dass das möglich wäre. Meine Kopfhaut kribbelte und fühlte sich in etwa so an, als würde jemand versuchen, meine Haare wieder in die kleinen Löcher hineinzupulen, aus denen er sie gerade hinausgerissen hatte. Zunge und Nase spürte ich noch gar nicht, ganz zu schweigen von den Augen, aber meine Ohren rauschten und gaben Fieptöne von sich, Wortfetzen in verzerrten Frequenzen, Brummtöne und seltsamer Luftdruck, als würde ich permanent mit dem Flugzeug fliegen.
Aber das Gefühl des Fallens ließ nach, was ich im Nachhinein bemerkte. In diesem Moment war es mir egal, was aufgehört hatte. Hauptsache, all das, was gerade so permanent anhielt, würde ebenfalls wieder verschwinden.
Wie gesagt, es war schon widerwärtig, geboren zu werden.
Die armen kleinen Kinder. Und die kriegen das ja auch noch physisch auf die Reihe.

Während ich also noch damit beschäftigt war, die hässlichen kratzenden Luftmoleküle zwischen meinen Zähnen hindurchzuschieben und meine Fingernägel nach innen wachsen zu lassen - dem Gefühl zuzuordnen jedenfalls - versuchte ich, gedanklich zu verstehen, was all die Laute um mich herum bedeuteten. Eines, das konnten menschliche Stimmen sein, aber ob männlich oder weiblich, vermochte ich nicht zu sagen. Pieptöne, Rascheln, Schritte, eine Art srrkkksks und viele, viele kleine Laute, wie das einfache Knistern der Stille, das Knacken von Holzbalken, die verschwommene Geräuschkulisse von sehr weit entfernt. Es kam mir vor, als könnte ich plötzlich die ganze Welt hören, wenn ich mich bloß darauf konzentrierte.

Winterherzen (II)Where stories live. Discover now