05 * Nachtwache

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Cane

Das Laufen war nicht so schwer, wie Meredith offenbar angenommen hatte. Vidia ging neben mir, der Rollstuhl rollte hinter mir her und zu beiden Seiten folgte mir eine Schar von Männern und Frauen, die darauf achteten, dass ich nicht hinfiel, wenn meine Schritte zu unsicher wurden, und mich stützen, wenn ich aussah, als könnte ich Hilfe benötigen. Sie trugen Handschuhe, und auch, wenn ich mich zuerst wie ein Versuchskaninchen oder Laborobjekt fühlte, verstand ich doch, warum sie versuchten, mich nicht zu berühren. Keiner von ihnen sprach mich an, wir gingen in Stille - Reizüberflutung, hatte Meredith gesagt; was wohl bedeutete, dass ich jedenfalls fürs Erste mit nicht vielen Menschen oder überhaupt Dingen in Kontakt treten durfte.

Durch einen langen, tristen Flur betraten wir ein ebenfalls weißes Zimmer - eine andere Farbe hatte ich in diesem ganzen Haus noch kein einziges Mal gesehen - mit einer großen Fensterwand, hinter der ein mitternachtsblauer Vorhang den Blick nach draußen verwehrte. Ins Glas war eine Tür eingelassen, also nahm ich an, dass draußen ein Balkon sein musste, der Balkon, auf dem ich gleich stehen würde.
„Alles, was du sagen musst, ist etwas in die Richtung ,Ich lebe und es geht mir gut.' Das ist nicht so schwer." Vidia lächelte mir zuversichtlich zu, dann trat sie durch die Tür, die einer der Männer für sie geöffnet hatte, und schlüpfte durch den Vorhang ins Freie, so allerdings, dass ich keinen Blick nach draußen werfen konnte.

Ich lebe und es geht mir gut. Das war alles? Vielleicht sollte ich das besser umformulieren. Ich lebe wieder und ich bin gesund? Oder war das irreführend? Ich meine, wirklich verletzt und krank war ich ja nicht gewesen, nur ... und wie viele Leute das wohl waren? Fünfzig? Hundert? Mehr? Ich dachte an Vidias Worte, Das ganze Land ist wie tot. Dann mussten es wohl noch viel mehr sein, aber ich konnte mir einfach nicht vorstellen, warum diese Menschen für mich alles lahmlegen sollten.
Gedämpft hörte ich die glockenhafte Stimme durch das Glas und den Stoff hindurch, was sie sagte, konnte ich aber nicht verstehen. Auch war keine Regung oder Veränderung der Lautstärke draußen zu vernehmen - kein Raunen, kein Applaus, kein Jubeln.
Ich lebe und es geht mir gut. Insofern ich nicht sofort vor Aufregung hyperventiliere, ja. Nachdenklich knetete ich an meinen Fingern herum. Die Muskeln in meinen Beinen schmerzten schon jetzt, obwohl ich nur ein paar Schritte gelaufen waren, aber ich hatte irgendwie das Gefühl, dass sie sich in der Zeit, in der ich bloß dagelegen hatte, abgenutzt hatten.

In der Glasscheibe starrte mich mein Spiegelbild an, eine weiße, gespenstige Gestalt in einer dünnen, nachthemdartigen Tunika, und mir fiel auf, wie ... sauber ich gerade aussah. Irgendwie abgemagert, aber ich hatte das Gefühl, dass meine Haut heller war und meine Haare auch, meine Augen undurchsichtiger, und die winzige Narbe, von der ich wusste, dass sie meine Lippe verunstaltete und mir eine Erinnerung für diese erste Auseinandersetzung mit Will war, konnte ich fast gar nicht entdecken. Nur eine kleine Kerbe blieb zurück, die man im Halbdunkel nur als schwachen Schatten wahrnehmen konnte.
Ich musste an Will denken.
Eines war klar - Meredith und Vidia wollten ihn von mir fernhalten. Nur, warum? In diesem Moment wünschte ich mir mehr denn je, zu wissen, was genau beim Movie Park passiert war. Einfach, um herauszukriegen, wie ich zu Will stand. An unsere gemeinsamen Trainingsstunden erinnerte ich mich, falls man das so nennen konnte, und an eine Nacht, in der er mir ein Märchen erzählt hatte, das meine Wahrheit geworden war. Leider.

„Kaldr-kona, Ihr seid an der Reihe." Einer der Männer, der, der an der Tür stand, öffnete sie. Die Gesten, die er benutze, waren irgendwie distanziert und seine Stimme klang so respektvoll; ein weiteres Mal fragte ich mich, wie wir uns diese ständige Ehrbietung eigentlich verdient hatten. Weil wir die Winterseelen sind. Ja, natürlich. Aber für diese Menschen schien das etwas Gutes zu sein, etwas Besonderes. Etwas Bewundernswertes.
Ich trat vor, meine Beine kribbelten, und als ich den Vorhang zur Seite hob, schlug mein Herz wie verrückt - vielleicht einfach, weil es genau dasselbe Gefühl war, wie auf einer Bühne zu stehen. Ich hatte nicht unbedingt Lampenfieber, aber so ein bisschen Nervosität hat jeder, wenn er den Eindruck hat, im Mittelpunkt zu stehen und etwas ungeheuer Wichtiges zu tun.
Vor Allem, wenn man gerade eine nicht gerade spaßige Neugeburt hinter sich hatte. Es war deine Entscheidung, Cane, tadelte mich meine innere Stimme. Kaum bist du wieder am Leben, fängst du an, ungeheuer dumme Sachen zu unternehmen.

Winterherzen (II)Where stories live. Discover now