02 - Kalter Atem

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Ich fühle
die Kälte.

Ich fühle nur die Kälte, nichts anderes.
Nicht meinen Körper und nicht meine Seele.
Ich glaube, ich sterbe.

Bedeutet Kälte den Tod?

Ich weiß es nicht. Aber ich glaube, ich habe auch keinen Kopf, keine Gedanken zum Denken.
Um mich herum ist nichts, nur Kälte. Kein Vakuum, kein luftleerer Raum, sondern wirklich nichts. Es ist schön, das Nichts. Ich mag es. Aber es ist auch kalt.
Das Nichts schaut mich an, es riecht an mir. Ich höre es lauschen, und ich lausche mit. Wie an einer imaginären Tür sitzen wir da, das Nichts und ich, und wir hören zu.

Ich vernehme einen Laut.
Ich mag ihn.
Ich glaube, es ist eine menschliche Stimme.
Ich glaube, sie sagt ein Wort.
kä-in.
Ich glaube sogar, es ist ein Name.
Ich glaube, ich kenne ihn.

kä-in.

Was für ein absolut beschissener Name.

Ich will das gerade dem Nichts mitteilen, aber es ist verschwunden. Ganz plötzlich, in der Sekunde, in der ich mich auf die Stimme konzentriert hatte.
Ich kenne diese Stimme.
Das Letzte, was ich sie habe sagen hören, ist genau desselbe gewesen. kä-in.

Das ist aber nicht mein Name, oder?
Ich betrachte langsam die Umgebung, die das Nichts mir hinterlassen hat. Es ist seltsam dunkel, wahrscheinlich Nacht. Aber links von mir schält sich eine Bergsilhouette aus der Finsternis; rote Strahlen von Morgenrot – oder Abendrot – wie aus geschmolzener Glut brechen durch die dusteren Zacken.
Das Nächste, was ich sehe, ist das Feuer.

Es erinnert mich an die roten Streifen am Nachthimmel, kräftige Streifen in fahlem Grau. Doch es ist viel lebendiger, viel zuckender, viel heller. Kein mattes Leuchten geht davon aus, nur flackernde, helle Funken, die scharfe Kanten in die Nacht malen. Ein Haus brennt, aber es ist ein großes Haus, ein sehr prächtiges Haus.
Kurz verschwimmt die Szene vor meinen Augen. Habe ich überhaupt Augen? Ohne einen Körper kann man keine Augen haben. Ich habe keinen Körper. Glaube ich.
Dann ist das Feuer wieder da, es ist viel größer, viel aggressiver und viel heller als zuvor. Holzscheite brennen, Steine brennen, selbst das Wasser brennt. Wasser, das in einem Brunnen fließt, der selbst nicht mehr sprudelt. Ein riesenhafter schwarzer Klumpen steckt darin, schwarzes Holz. Goldstaub rieselt durch die Flammen.

Plötzlich sehe ich die gesamten Ausmaße der Häuser. Es sind eher Silhouetten, eher große Schatten, hoch wie Riesen, die ihren Rücken dem Nachthimmel entgegenstrecken. Ich sehe Gondeln, Kuppeln, Giebel, Seile, Holzverstrebungen. Meisterwerke von Mechanik und Baukunst, entstanden aus purer Fantasie und Erfindungsgeist einer einzigen Frau.
Und sie stehen in Flammen.

Ja, Madame Cinémas Movie Park steht in Flammen.

Madame Cinémas Movie Park verbrennt, Stein für Stein, Splitter für Splitter.
Kalte Hände und ausdruckslose Augen lugen zwischen den Lichtblitzen hervor.
Der Park verbrennt, und er frisst seine Gäste. Er nimmt sie mit, zieht sie mit in seinen eigenen Todeskampf.
Aber es beeindruckt mich nicht.
Es beeindruckt mich nicht, weil da etwas anderes ist, das mich interessiert. Es ist ein Schatten, so wie alle anderen eigentlich auch, aber das Besondere ist, er besteht aus zwei Personen.
Und sie leben.

Zuerst denke ich, sie wären auch tot. Eingefroren, erstarrt, weil sie sich nicht bewegen. Beide atmen flach, weil der Rauch in ihre Kehlen einzieht und versucht, ihre Lungen zu explodieren. Das Feuer im Hintergrund knistert und knackt, lässt Licht auf ihren Köpfen tanzen.
Eine der beiden Gestalten ist männlich, und sie ist ein wenig größer als die andere. Die andere ist jünger und reicht der einen bis zum Kinn, aber sie ist auch zusammengesackt. Lockige blonde Haare ragen aus einer verhedderten Hochsteckfrisur heraus und ihre Arme hängen schlaff zu beiden Seiten herab, aber sie blinzelt in den Funken der Flammen um sie herum. Sie atmet, und sie lebt, und sie ist wach, bei Bewusstsein. Und doch scheint sie Dinge zu sehen, zu erleben, die die andere Gestalt nicht bemerkt.

Winterherzen (II)Where stories live. Discover now