Eisige Zeiten

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Es war später Abend. Ethan starrte abwechselnd auf seine Berechnungen, die verschachtelten Diagramme und die komplexen Formeln auf dem Monitor. Sein Kopf brummte, Buchstaben und Zahlenreihen verschwammen vor seinen geröteten Augen. Battery is low, time to recharge!, kündigte sein prX-Armband mit einem Vibrieren an. Sein vegetatives Nervensystem hatte zu Orangerot gewechselt. Er presste die Lippen zusammen. Fuck! Er wusste, dass er völlig überlastet war, er wusste, dass er das System herunterfahren und die Arbeit für heute beenden sollte. Nach zwölf Stunden waren seine Hirnnerven-Ganglien völlig überreizt. Aber er wusste auch, dass er kurz davor stand, dieses Projekt abzuschließen.

Wieder einmal war er der Letzte in der Wissenschaftskuppel. Die anderen lagen schon in ihren Schlafboxen, hatten ihre Nährstoffkomplexe geschluckt, den prX auf lautlos gestellt und waren dann wie Ölsardinen nebeneinanderliegend in tiefen Schlaf gesunken. Bereit für die geforderte Leistung am nächsten Tag.

Ein Blick durch die Glasfront. Der von einem blutroten Schleier überzogene Himmel verhieß schönes Wetter für den nächsten Tag. Wie eine Verheißung ragte hinter der riesigen schneebedeckten Weite die Kuppelstadt Astropia am Horizont auf. In den verspiegelten Wänden ihrer Türme und Glasfronten reflektierten sich die Strahlen der tiefstehenden Sonne. Wie so oft ein atemberaubender Anblick. Er seufzte. Sie waren alle nur kleine Rädchen im System. Die gläsernen Türme waren für sie so unerreichbar wie die Wolken, die darüber schwebten. Was träumten sie davon, Zugang zur Kuppelstadt zu bekommen, wenn dies doch so unwahrscheinlich war wie die Eroberung des kürzlich entdeckten, Milliarden von Lichtjahren entfernten Planeten Panox. Nach Astropia kam nur, wer entweder massenhaft Geld hatte, durchgehend übermenschliche Leistung erbrachte oder aber bereit war, als lebender Organspender für die sogenannten High Stars zu fungieren. Die Aussicht, in den Türmen ein angenehmes Leben zu führen, womöglich für eine Partnerin freigestellt zu werden und eine Familie zu gründen, war schlichtweg selbsttäuschende Illusion.

Er wischte sich eine Strähne aus der Stirn und wandte sich missmutig wieder der wissenschaftlichen Abhandlung über Spaltöffnungen zu – seiner Meinung die einzige Möglichkeit, einen Ausweg aus der Ressourcenknappheit der Erde zu finden. Erdgas, Kohle und Öl gingen zur Neige, Holz und Sand gab es schon nicht mehr. Das Eintreten in neue Dimensionen, – für ihn war es wortwörtlich der Funken Hoffnung, an den er sich inmitten des ewigen astropischen Winters klammerte. Ohne Energie und Wärme würden die Menschen bei den eisigen Temperaturen krepieren. So einfach war das.

Aber verdammt, wenn seine Berechnungen stimmten, dürfte die Fertigstellung eines Dimensionen-Hologramms nicht mehr weit sein. Die Apparaturen verrichteten ihren Dienst, das einzige Problem waren die verdammten Schwingungen, die er stabilisieren musste.
Man schrieb das Jahr 2524. Er war schon lange in der Wissenschaftskuppel. Drei Jahre mittlerweile. Manchmal dachte er, er würde hier, wo Wissenschaftler aller Nationen über weltbewegenden Problemen brüteten, noch alt und grau werden. Oder an Überarbeitung zugrunde gehen. Natürlich, er war stolz gewesen, als sie ihn gerufen hatten, in den heiligen Hallen der Wissenschaft zu arbeiten. Herrgott, er war erst einundzwanzig gewesen! Es war eine Ehre, dass sie ihn geholt hatten und er gab sein Bestes, die High Stars nicht zu enttäuschen. Es war sinnvoll, was er machte. Was gab es Uneigennützigeres, als für das Überleben der Menschheit zu arbeiten?

Er griff nach der Thermoskanne und goss sich eine Tasse dampfenden Kaffees ein. Die Müdigkeit griff bleiern nach ihm, seine Lider wurden schwer. Er würde die Lösung finden, heute oder morgen ...

Einen Moment später – der Kaffee stand noch unberührt neben ihm –, ließ er den Kopf auf die Arme sinken und schloss die Augen. Einen Moment nur, um auszuruhen und neue Kräfte zu sammeln. Einen Moment.
                                                                                        *

Im Traum fand er sich in verschneiter, endloser Weite wieder, Meilen entfernt von der schützenden Forschungskuppel. In der Ferne zitterte das verstörende Bild einer schneebedeckten Ruinenstadt. Er stand draußen, allein, und sein Atem bildete beim Ausatmen kleine Wölkchen. Es war kalt.

Als ein grelles Licht am Himmel erstrahlte und ein weißes Band sich in rasender Geschwindigkeit nach unten ausbreitete, wusste er sofort, dass er hier eine gewaltige Spaltöffnung vor sich hatte. Eisige Kälte strömte durch sie hinein. Das war nicht gut. Gar nicht gut. Die hereinwirbelnde Luft würde eine eisige Hülle um die Atmosphäre legen. Hätte er wenigstens eins der mit Wasserstoff betriebenen Spherical flying balls, dann könnte er hochfliegen und das Problem direkt von oben angehen. Da hörte er plötzlich ein mechanisches, rhythmisches Klacken und sah sich erschrocken um. Er fand sich vor einer riesigen, rückwärts tickenden Uhr wieder, deren Zeiger sich in hohem Tempo gegen den Uhrzeigersinn drehten, die Zahlen verschwammen zu einer endlosen Kaskade. Eine verzerrte Stimme verkündete, dass die Zeit gegen die Menschheit arbeitete. Schweiß brach ihm aus.

Mit einem Ruck fuhr Ethan auf, sein Herz pochte wild. Erregt griff er nach seinem prX-Armband und sah auf die Zeitangabe. Die Uhrzeit lief normal vorwärts. Oh mein Gott! Langsam beruhigte sich sein Puls wieder. Ein Traum, es war nur ein Traum. Er schaltete das holographische Display ein. Die Aufzeichnungen seiner Experimente brachten ihn zurück in die Wirklichkeit. Plötzlich hielt er inne. Ein Gedanke durchzuckte ihn. Die rückwärts laufende Zeit - das war die Lösung! Er konnte das Quantenresonanzmodul einfach rückwärtslaufend verwenden! Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Warum war er nicht früher darauf gekommen? Womöglich hatte er hier das letzte fehlende Puzzleteil in Händen. Er atmete tief durch. Er würde es testen. Jetzt gleich. Um etwaige Fehler auszuschließen. Und es morgen dem Gremium vorstellen. Auf einmal wurde er ganz fiebrig.

In aller Eile nahm er die neueste Softwareanpassung vor, gab die notwendigen Codes ein und kalibrierte mit zittrigen Händen das Modul.

Er war nicht vorbereitet auf das ohrenbetäubende Zischen, das Sekunden später erklang.

Eisige ZeitenWhere stories live. Discover now