Verrat

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Ethan ging es bald besser. Sobald er wieder aufstehen konnte, steckte er den Kopf aus dem Iglu und tat ein paar vorsichtige Schritte durch die Siedlung. Sie bestand aus zwei Dutzend dickbäuchigen, niedrigen Iglus, die sich in einer Talsenke neben einem Fluss aneinander kauerten. Die Akari, ein Menschenschlag mit schmalen Augen und olivfarbenem Teint, schienen nicht feindlich gesinnt, verhielten sich jedoch zurückhaltend, wenn er ihnen über den Weg lief. Alle trugen diese seltsame Halskette um den Hals. Sie führten ein einfaches Leben im Einklang mit der Natur. Ihr Zuhause waren die weiten Ebenen der schneebedeckten Tundra, der hohe Himmel, der sich im Bogen darüber spannte und die eiskalten Winde.

Wenn er abends mit am Lagerfeuer saß und den melodiösen Gesängen zuhörte, dachte er bei sich, dass er noch nie ein solches Gefühl von Gemeinschaft und Harmonie kennengelernt hatte.

In den ersten Wochen nahm Bea ihn mit auf Erkundungstouren. Sie zeigte ihm die besten Plätze zum Fischen, lehrte ihn, verschiedene Tierfährten im Schnee zu lesen und zeigte ihm, wie man Pfeilspitzen aus Knochenfischen schnitzte. Zusammen ritten sie auf den robusten Sepharyden-Ponys zu den eisigen Quellen, die im Winter zu gefrorenen Skulpturen erstarrten. Zwischen Bea und ihm entstand eine zarte Beziehung, die ihn beglückte. Er war verzaubert von dieser starken jungen Frau, die wie ein Drakoner ritt und mit der Urgewalt der Tundra zu kämpfen wusste. Das Glück, das er in ihrem Beisein erfuhr, erschien ihm so schön wie die langen Mittsommernächte, in denen sich ihre Hand in seine stahl. Und wenn die Sterne am Himmel ihre Schönheit an den dunklen Himmel über der rauen Landschaft malten, legte er seinen Arm um Bea, und ihm wurde klar, dass er hier glücklich war.

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Er hatte in Erfahrung gebracht, dass das Metall, aus dem die Amulette geschmiedet wurden, aus den heiligen Bergen weit im Norden stammte. „Dort, wo die eisigen Winde das Gestein formen und die Energie der Göttin sich in jedem einzelnen Kristall sammelt, liegt die Wiege Yakunas", hatte Bea ihm erzählt. Auf unerklärliche Weise und über einen erstaunlich langen Zeitraum speicherten die Amulette eine beträchtliche Menge an Energie. Ihm war klar, dass er es nach Astropia bringen musste. Die Zukunft der Astropianer konnte davon abhängen. Doch hatte er keinerlei Möglichkeit, mit Astropia in Verbindung zu treten. Bald trug er sein prX-Armband nur noch aus Gewohnheit.

Wochen waren ins Land gegangen, Scharen von Wildgänsen schreiend am Himmel entlanggezogen und der Stör aus dem Meer zum Laichen in die Flüsse aufgestiegen. Dass ihn seine Vergangenheit einholen würde, damit hatte er nicht mehr gerechnet.

Doch eines Nachmittags, als er mit Bea auf Moorhuhnjagd war und die Sonne unheilvoll rot über den niedrigen Krüppelkiefern unterging, empfing er eine Nachricht auf seinem prX-Armband. Es war ein Schock. Man ihn geortet. Nach vier Monaten. Nachdem er knapp von dem seltsamen Metall Bericht erstattet hatte, erfuhr er, dass die Energiekrise in Astropia ein kritisches Stadium erreicht hatte. Es wurde dringend nach einer Lösung gesucht. Er wurde angewiesen, sich noch in derselben Nacht mit dem Metall an der Stelle einzufinden, wo er damals in die neue Dimension eingetreten war. Sie würden ein Portal für ihn errichten. Seine Hände zitterten, als ihm klar wurde, was dies bedeutete. Er schaffte es nicht, Bea davon zu erzählen.

Schlaflos wälzte er sich nachts auf seinem Lager neben ihr hin und her, bis er sich verzweifelt erhob. Er hatte keine Wahl. Er würde nicht tatenlos zusehen, wie seine Heimat dem Untergang entgegensteuerte. Er musste das Amulett nach Astropia bringen. Er musste seine Liebe opfern.
Seine Finger bebten, als er Bea das Amulett vom Hals stahl.

Das hohle Klopfen des Nachthähers war in der Ferne zu hören, als er durch die Siedlung hastete, um sich in die Schatten der Nacht zu stürzen. Tränen standen in seinen Augen, als er die Worte vor sich hin flüsterte, die er selbst kaum ertragen konnte: "Ich liebe dich, Bea, aber meine Welt braucht mich." Der Verrat lastete auf seinem Herzen.

Der Mond tauchte die Landschaft in silbriges Licht und die stählernen Flügeltüren des Hologramms, von weitem sichtbar, glänzten im Mondlicht wie die Schuppen eines Krähdornfisches. Wie dessen aufgesperrter Rachen öffnete sich die Spaltöffnung vor ihm.
Er schloss die Faust fester um das Amulett, spürte, wie ihm das Metall in die Hand schnitt. Er musste es tun.

Als er den schwierigsten Schritt in seinem Leben machen wollte, den Schritt, den er wahrscheinlich sein ganzes Leben lang bereuen würde, erklang eine erstickte Stimme hinter ihm: „Tu es nicht, Ethan, bitte."



Eisige ZeitenWhere stories live. Discover now