Prolog

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Amara blinzelte und versuchte angestrengt den Blick zu fokussieren. Ihr Kopf schmerzte, als hätten sich Millionen kleiner Angelhaken in ihrem Gehirn verfangen und ein scharfer, undefinierbarer Geruch malträtierte ihre Nasennebenhöhlen.

Was ist passiert?

Wo bin ich?

Langsam wurde sie sich ihrer Situation bewusst. Sie saß festgeschnallt in einem Transporter, aber ihre Welt stand irgendwie Kopf. Vor sich in der Dunkelheit entdeckte sie die schemenhaften Umrisse ihrer Betreuerin Debbie.

Amara drückte etwas Speichel ihre ausgetrocknete Kehle hinunter als sie realisierte, dass es sich bei diesem scharfen Geruch in ihrer Nase vermutlich um den Gestank von Blut handeln musste. Also war Debbie ... tot?

Debbies normalerweise hellblonde Lockenmähne war mit einer dunklen Flüssigkeit durchtränkt. Auch die anderen beiden Betreuer, Josh und Abigail, befanden sich angeschnallt in ihren Sitzen im selben Zustand; leblos.

„Du irrst dich!", hörte sie eine verärgerte männliche Stimme aus der Ferne knurren und ihr Herz krampfte ängstlich, bevor es im erhöhten Tempo weiterschlug. „Da kann unmöglich noch jemand am Leben sein! Sieh dir den Transporter doch an, Juna! Der macht doch jeder zusammengedrückten Ziehharmonika Konkurrenz!"

„Halt die Klappe und mach endlich dieses Ding auf, Dags. Mir wird deutlich eine Wärmequelle angezeigt, also muss sich darin noch jemand mit intakter Blutzirkulation befinden!"

Panik durchflutete Amara und sie versuchte mit zitternden Fingern den Gurt zu lösen, der sie an Ort und Stelle gefangen hielt. Was waren das für fremde Stimmen? Und was würden die Besitzer dieser Stimmen tun, sobald sie hereinkamen?

Fast im selben Moment, als Amara das erlösende klickende Geräusch der Gurtschnalle vernahm und sie mit einem unterdrückten Aufschrei auf der zersplitterten Frontscheibe unter sich landete, wurden die hinteren Türen des Transporters gewaltsam aufgerissen und grelles Licht flutete das Innenleben des Fahrzeugs und veranlasste Amara dazu, schützend den Arm über ihre geblendeten Augen zu heben.

„Ha!", erklang die zweite, weibliche Stimme nochmals triumphierend. „Sagte ich doch, dass da noch jemand mit schlagendem Puls drin ist. Schade, wir hätten um Kredits darum wetten sollen ..."

„Da ist wirklich noch jemand am Leben?", erkundigte sich die erste Stimme immer noch skeptisch und neben den schmalen Schemen, den Amara mühsam schaffte in dem Licht auszumachen, schob sich ein weitaus gigantischerer Umriss einer Person.

Amaras Herz schlug in Überschallgeschwindigkeit. Sie hatte Angst; Todesangst.

„Hallöchen, du da unten", trällerte eine verstörend aufgeweckte Stimme und der kleinere der beiden Schemen, beugte sich tiefer hinein. Amara erkannte blitzend weiße Zähne und langes schwarzes Haar, was der Person in losen zwei Zöpfen herunterfiel und beinah Amaras Gesicht streifte. „Alles gut bei dir?"

Amara wusste nicht, was sie darauf antworten sollte und nickte nur überfordert. Wer war diese komische Frau?

„Du musst mich nicht so ängstlich ansehen. Wir gehören nicht zu den Fieslingen, die dein Bewusstsein überschreiben wollen. Ich bin Juna und wie heißt du?"

Die seltsame Person glitt sogar noch etwas tiefer in den Transporter hinein und ihre Haare kitzelten nun wirklich Amaras Nasenspitze.

„Pass auf!", fauchte die zweite Person genervt und verkrallte sich mit einer Hand in der feuerroten Jacke der Frau, da diese drohte komplett kopfüber hineinzustürzen.

Amara zögerte und biss sich unschlüssig auf die Unterlippe, aber die mandelförmigen, pechschwarzen Augen der seltsamen Frau waren unendlich freundlich. Und sie besaß ohnehin keine Fluchtmöglichkeit.

„Klon-738", flüsterte Amara deshalb wahrheitsgemäß zu ihr hinauf und die schmale Augenbraue der Frau verrutschte, als diese schnaubend erwiderte: „Das ist doch kein Name. Wie nennen dich deine Freunde, hm?"

Amaras Gedanken wanderten zu Jodie und Ash und ein schmerzhafter Kloß manifestierte sich augenblicklich in ihrer Kehle. „Sie nannten mich ... Amara", hauchte sie bedauernd, da ihre Freunde längst nicht mehr existierten. Nicht so, wie vor der Überschreibung. Nur noch ihre Körper, die irgendwer anderes nun spazieren trug. Ein Schicksal, was auch sie bald erwartete.

„Amara", wiederholte diese Juna und legte sich nachdenklich einen Finger ans Kinn. „Wie ... Amara Lombardi?"

Die junge Klonin nickte und bestätigte mit leiser Stimme: „Amara Lombardi ist mein Original."

„Masel tov", entschlüpfte es der Frau ein wenig ungläubig und rief dann um einiges lauter zu dem sie immer noch festhaltenden Mann empor: „Hast du das gehört, Dag? Wir haben Amara Lombardis Klon gerettet! Ist das nicht der Wahnsinn?!"

Gerettet?, echote Amara verwundert in ihren Gedanken.

„Mhm, schauen wir mal, was Lew dazu sagen wird", antwortete der Mann namens Dag weit weniger enthusiastisch. Amara hatte noch nie jemanden wie ihn gesehen. Er sah nicht aus wie Ash oder einer der männlichen Wissenschaftler aus dem Wohnheim. Unter dem schwarzen Achselshirt spannten sich Muskeln und in seinem markanten Gesicht leuchteten ihr unerschrockene stahlgraue Augen entgegen. „Und jetzt mach endlich und hilf der Kleinen raus oder wie lange willst du meine Muskelkraft noch dermaßen schamlos für deine Akrobatikkünste missbrauchen, Juna?"

Die seltsame Frau grinste daraufhin schief zu Amara hinab und streckte ihr in der nächsten Sekunde hilfsbereit ihren kunstvoll tätowierten Arm entgegen. Einige ungläubige Herzschläge lang, konnte Amara die vor ihrer Nase baumelnde Hand, mit den vielen Ringen an jedem der schlanken Finger, nur unschlüssig anstarren.

Dann griff die Klonin schüchtern danach und fühlte zum ersten Mal in ihrem Leben menschliche Wärme.



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Arche_Noah_ProjektWhere stories live. Discover now