Kapitel 53: Gib dein Bestes

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"Das schaffst du schon", redet Roxas mir gut zu, während er mir meinen Anzug zurecht rückt. "Wir treffen uns gleich mit Quent und den anderen. Heute können wir nur zu viert auftreten ... Das heißt, dass du dir besonders Mühe geben musst."
Nicht unbedingt das, was ich hören will. Obwohl wir beide nicht einmal in der Aula sind, klopft mein Herzschlag bereits extrem stark und gut geschlafen habe ich die Nacht auch nicht. "Ich hab' Angst", gebe ich bedrückt zu und sehe in den Spiegel.
Roxas Vater steht neben mir und zupft mein braunes Haar zurecht. "Ich bin so stolz auf euch beide", sagt er mit einem Lächeln und nimmt das Gesicht seines Sohnes in die Hände. Er betrachtet sein Kind kurz und schenkt ihm einen Kuss auf den Haaransatz.

Meine Knie sind weich, als ich oben ankomme. Roxas lehnt sich kurz an die Wand, um zum Atem zu kommen. Mich prägt das Gefühl, dass der Zeitpunkt, an dem Treppen ihn anstrengen viel früher eintritt. Er sollte wirklich ein wenig an seiner Kondition arbeiten ... Man sollte doch wenigstens 20 Stufen ohne große Anstrengung bewältigen können.
Ich fühle mich ausgesprochen komisch - unwohl. So, als würde mir eine Aufgabe vor mir liegen, die ich nicht bestehen kann. Dennoch muss ich es versuchen und alles geben, was ich kann. Es ist zwar nur singen, aber vor der Schule ... Das ist einfach eine sehr große Herausforderung.
Auf eine Bühne zu gehen, ohne zu wissen, ob ich überhaupt einen Ton heraus bekomme ... Kein schönes Gefühl.

Quent und Jay stehen bereits hinter der Bühne und haben alles aufgebaut. Sogar Jay hat sich in passendere Kleidung geworfen, obwohl er sonst nicht zu so etwas gewillt ist. "Kanns losgehen?"
Ich sehe Roxas gequält an. Meine Einstellung, dass ich es bloß versuchen muss und bestimmt schaffe, verfliegt immer mehr. Mein Herz hämmert gegen meine Brust, ich spüre es an meinen Schultern, in meinen Fingern ... Als Roxy den Ausdruck in meinen Augen sieht, öffnet er den Mund, um etwas zu sagen, doch ich komme ihm zuvor: "Ich habe Angst." Leise, zitternd, so ist meine Stimme. Nicht laut, geschweige denn schön. Alle drei sehen mich an, doch in ihren Augen ist keine Spur von Mitgefühl - sondern von Glauben.
Glauben an mich.

Ohne, dass jemand noch etwas sagt, geht Roxas auf die Bühne und hält wie letztes mal seine Willkommensrede und spielt ein Solo am Flügel. Ein anderes Lied als letztes mal, doch genauso berührend und ergreifend. Die, von seinen Fingern geleitete, Melodie umschließt mich erneut und schenkt mir innere Ruhe, Kraft, verleiht mir die Stärke, die mich wieder nach vorne blicken lässt.
Es ist der Moment, an dem ich mich frage, ob er für uns alle als erstes auf die Bühne tritt und uns auflockert, uns Vertrauen darin gibt, dass wir das richtig machen.
"Wenn du einen Fehler machst, scheiß' drauf und fang einfach wieder an oder mach normal weiter", flüstert mir Jay zu und ich nicke.
So lange man alles gibt, ist jedes Ergebnis in Ordnung.

Es ist so weit und wir gehen alle auf die Bühne. Ich bin ziemlich mittig, weil ich der Sänger bin. Als ich die vielen Sitzreihen sehe, fällt mir das Atmen immer schwerer und der laute Applaus verschwimmt in meiner Wahrnehmung.
Mein Blick trifft auf Roxas, der sich an sein Keyboard setzt und mir zu nickt.

Jetzt ist es also so weit.
Jetzt ist es Zeit.
Ich halte ein Mikrofon in der Hand, noch ist alles still. Meine Knie sind weich und ich zittere.
Als alle perfekt im Einklang miteinander zu spielen beginnen, höre ich meinen Puls pochen. Umso näher mein Einsatz kommt - und das tut er ziemlich schnell - umso stärker kann ich ihn hören.
Ich bin so sehr mit meiner Angst beschäftigt, dass ich meinen Einsatz verpasse. Als alle aufhören zu spielen und einfach von neu beginnen, ist das wie ein Schlag in die Magengrube für mich. Ich verliere immer mehr den Glauben an mich selbst und will dieses mal alles perfekt machen, also achte ich genau auf meinen Einsatz - ich öffne den Mund, dann kommt der nächste Schock: es kommt kein Ton heraus.
Nicht mal ein Wort anfangen kann ich.
Ich bin zu nichts in der Lage!
Verkrampft sehe ich zu Roxy, der wieder aufgehört hat zu spielen und zu mir nach vorn kommt. Er nimmt mir das Mikrofon ab und legt dabei einen Arm um mich. Ich fühle mich lächerlich zur Schau gestellt, dabei war ich während der Proben so gut ...
"Er steht zum ersten Mal auf der Bühne, nehmen wir es ihm nicht übel!", sagt Roxas in der selben Tonlage wie bei der Ansprache. Es ist komisch, ihn einmal direkt neben mir zu hören und dann noch aus den Lautsprechern. Er klingt keinesfalls vorwurfsvoll oder niedergeschlagen, sondern strahlt voller Energie. "Wie wäre es, wenn wir ihm alle gemeinsam helfen, euch eine gute Show zu bieten?"
Ich sehe in etliche, lächelnde Gesichter, aber auch in ernste. Zu dem fällt mir auf, dass Ashley wieder in der ersten Reihe sitzt und uns beide anstarrt, als würde er uns beide hassen.
Aber ... mir helfen?
Roxas entfernt das Mikrofon von seinem Mund und schlägt leicht mit den Fingern auf seine Adern.
"Reza! ... Reza!"
Er beginnt und nur wenige Sekunden später hat jeder, der nicht klatschfaul ist, seinen Takt angenommen und alle rufen einheitlich meinen Namen, als ob sie mich anfeuern würden Auch Quent und Jayden! Erst, als ich Roxy berührt anlächle, hört er auf und gibt mir mein Mikrofon zurück. "Wir wollen dich jetzt alle singen hören", flüstert er mir fröhlich in das Ohr. "Gib dein Bestes."

Roxas kehrt zu seinem Keyboard zurück und das Spiel beginnt von neuen. Nur dieses Mal weiß ich, dass die meisten da unten mich nicht verachten ...
Nur dieses Mal ... schaffe ich nicht nur den Einstieg, der groß mit Applaus belohnt wird, sondern gehe beim zweiten Lied wie Feuer und Flamme auf. Ich fühle mich gegen Ende hin sogar wie ein richtiger Superstar und stelle mir vor, dass nicht nur all die Schüler hier sitzen würden, sondern mehrere Tausende!
Gegen Ende hin kommen wir alle nach vorne und verbeugen uns vor den Schülern. Obwohl wir alle uns nicht sportlich betätigt haben, schwitzen wir. Es ist anstrengender als gedacht, aufzutreten. Reza, der Superstar. Klingt doch toll, oder?

"Aber das war noch nicht alles!", grinst Roxy in das Mikrofon, als Jay schon einmal die nicht brauchbaren Instrumente in eine für die Zuschauer nicht sichtbare Ecke zieht.
Der Flügel wird vor den Leuten noch einmal aufgebaut und Roxy zieht mich zu ihm hin. Er setzt sich und lächelt mir zu. "Lass uns gemeinsam singen", sagt er so, dass nur ich es hören kann. "Welches Lied?", flüstere ich, da sagt er: "Unser Abendlied."
Roxas und mei Abendlied ist ein Song von Schnuffel, diesem kleinen Hasen. Ich habe es irgendwann einmal aus Spaß vor mich her gesummt, also kichere ich natürlich auf und schüttle den Kopf. "Doch, doch", gibt er keck zurück und beginnt zu spielen, als ob er das Lied schon Jahre lang geübt hätte. Ich mache große Augen und sehe zu den ganzen Schülern, die gespannt unseren letztesn Song hören wollen. Ich muss grinsen. Ein Lied von Schnuffel ... Als ob uns das nicht lächerlich macht, aber wenn ich eins von Roxy gelernt habe, dann ...
dass es überhaupt keine Rolle spielt, mhm?

Ich setze mich neben Roxas auf den samtigen Hocker und halte ihm das Mikrofon an den Mund, aber so, dass natürlich auch meine Stimme es noch erreicht. So träumen wir uns einfach in unsere eigene, kleine Welt.

"Wir gehören zusammen, wie die Sonne und der Mond.
Wir gehören zusammen, weil du in meinem Herzen wohnst."

Noch während des Liedes fließen mir die Tränen die Wangen herunter und ehe ich mich versehe, klatschen alle laut. Roxy steht auf und reicht mir d
seine Hand, welche ich gerne annehme. Nochmals verbeugen nur wir beide uns, und als Roxy mich auf der Bühne kurz küsst, ist der Tag so eben perfekt geworden.

Loveletters (BoyxBoy, Yaoi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt