Unbestimmte Ängste

34 8 12
                                    

So früh am Morgen ist die Stadt noch ziemlich still

Oops! This image does not follow our content guidelines. To continue publishing, please remove it or upload a different image.

So früh am Morgen ist die Stadt noch ziemlich still. Die Handwerker beginnen jetzt erst mit dem Aufräumen und Vorbereiten, bevor sie die Werkstätten öffnen. Die Straßenhändler haben noch nicht einmal angefangen, ihre Stände aufzubauen und auch in den Kontoren rührt sich noch nichts. Nur der Bäcker hat bereits den Ofen angeheizt und füllt den Marktplatz sowie die angrenzenden Straßen mit dem köstlichen Duft frisch gebackenen Brotes. In den Genuss dieses Odeurs kommen jedoch nur die Mägde, die am Brunnen Wasser holen und die Lehrlinge, die im Halbschlaf zur Werkstatt ihres jeweiligen Meisters schlurfen; die anderen Stadtbewohner werden meist erst wach, wenn das Brot längst schon abgekühlt in der Auslage präsentiert wird. Essen werden das Brot dann die Meister und die Herrschaften. Für unsereins bleiben nur die harten Brotkanten übrig, die am Ende des Tages zum halben Preis abgegeben werden, wenn die Handwerker ihr Tagewerk getan haben und die „bessere" Gesellschaft erst richtig munter wird.

Wenn dann das Rattern von Kutschenrädern, die Musik aus etlichen Villen und Palästen und das Lachen, Schnattern und Kreischen von Feiernden die Geräusche des Tages ablösen, die sich aus dem Hämmern von den Schmieden und Küfereien, Klappern und Schlagen von Webstühlen, Flachsbrechen und Klöppeln sowie dem Feilschen und Schachern von Händlern, Kunden und Wechslern zusammensetzen, kann von Feierabendruhe noch lange keine Rede sein. Erst spät in der Nacht, wenn niedere Wesen wie ich schon lange schlafen, wird es ruhig in der Stadt und das hält bis in die Stunde nach dem Morgengrauen an.

In dieser Morgenstille lässt es sich gut nachdenken und ich habe da auch einiges mit mir selbst zu klären. Kandreos Frage beschäftigt mich immer noch. Es gibt so viele Dinge, die mich ängstigen. Das ist wohl auch normal, denn ich lebe alleine als Jugendlicher in einer Stadt, in der man es schwer hat ohne eine Familie im Hintergrund; zwischen zwei Parallelgesellschaften, von denen keine Wert auf ein Geschöpf wie mich legt; unter Wesen, die entweder über militärische, politische oder gesellschaftliche Macht verfügen oder über gewaltige magische Kräfte gebieten als jemand, der keines davon besitzt. Angst zu haben ist in dieser Situation eher normal als paranoid oder übertrieben.

Unsere Stadt ist in gewisser Weise geteilt. Wir haben zwei Stadtvorsteher, zwei Verwaltungen und zwei Wachen, jeweils für die Menschen und die Fabelwesen. Von anderen Städten wird Venla oft als die Kommune gepriesen, in der Menschen und Fabelwesen friedlich zusammenleben, doch im Grunde leben sie nebeneinander her. Berührungen finden nur statt, wenn die eine Seite etwas von der anderen braucht. Privat bleiben beide Seiten unter sich, was allerdings auch bedingt, dass es sehr selten Streitigkeiten zwischen beiden gibt. Und das ist sogar ein Vorteil, denn es gibt kein zuständiges Gericht dafür. Ein Menschengericht darf kein magisches Wesen vorladen und ein Fabelgericht hat nicht das Recht, einen Menschen zu verurteilen. Fehden zwischen Menschen und Fabelwesen werden nicht vor Gericht, sondern via Selbstjustiz ausgefochten.

Faktisch wirkt sich das so aus, dass sich beide Seiten immer mehr voneinander distanzieren, dabei aber Hierarchien bilden. Denn die Fabelwesen haben mehr Möglichkeiten, sich für tatsächliches oder eingebildetes Unrecht zu rächen und gewinnen daher immer mehr die Oberhand über die Menschen, die sich mittlerweile selbst als Bürger zweiter Klasse sehen.

Geschöpfe wie ich, die theoretisch zu beiden Seiten gehören und praktisch zu keiner von ihnen und die keine großartigen magischen Fähigkeiten besitzen, bilden dann die dritte Klasse. Das macht mir aber wenig aus, denn immerhin habe ich wenigstens diese Stufe erklommen. Ursprünglich stamme ich aus der Gosse, aus dem menschlichen und magischen Abfall, den niemand mehr gebrauchen kann.

Innerhalb dieser Klassen haben sich weitere Strukturen herausgebildet. Bei den Menschen gelten Adlige und Waffenkundige mehr als Handwerker und Händler, wobei sich die Händler ihrerseits als über den Handwerkern stehend ansehen. Und selbst die Handwerker errechnen ihre Position untereinander nach Art der Beschäftigung; so gelten Schmiede, Tischler und Brunnenbauer als höher denn als Stellmacher, Gießer und Glasbläser, während sich Besenbinder und Kerzenzieher ziemlich weit unten wiederfinden. Immerhin stehen sie aber über den Hilfsarbeitern und vor allen den Lehrlingen. Zähle ich als Handwerker, finde ich mich zwar ganz unten, aber doch in der zweiten Klasse wieder.

Die Fabelwesen gruppieren sich nach Art und magischen Fähigkeiten. Bei ihnen sind vor allem Dschinns, Sphingen, Kitsunen und Tatzel- sowie Lindwürmer hochrangig, da sie über die stärkste Zauberkraft gebieten. Werwölfe, Minotauren, Frostriesen und Bärserker rangieren aufgrund ihrer urwüchsigen Kraft in der Mitte, während Wassergeister, Sylphen und Ccubi ihrer hypnotischen Macht wegen gefürchtet werden. Darunter fällt dann das sogenannte Kleinvolk, zu denen Kobolde, Irrlichter und Barstukken zählen. Vollends aus diesem gesteckten Rahmen fallen die "Gezähmten" - Hausgeister, Hunde und Puken. Sie werden von den anderen Fabelwesen zutiefst verachtet, weil sie sich nach deren Ansicht den Menschen untertan gemacht haben.

Auch wenn dieses Klassensystem seine Nachteile hat, so gibt es doch jedem Stadtbewohner einen festen Platz und schafft so eine gewisse Ordnung, an die man sich nur zu halten hat, um in Ruhe gelassen zu werden. Solange ich nicht versuche, ein Meister zu werden oder an magischen Kräften zu gewinnen, bin ich in der dritten Klasse gut aufgehoben.

Eine Hexe jedoch steht außerhalb dieser Ordnung und das macht mir mehr Angst als alles andere. Sie ist ein Mensch, besitzt somit die Fähigkeit zu lernen, was sie will – magische Wesen sind auf ihre arteigenen Kräfte beschränkt. Aber sie kann eben auch Zauberei lernen und das über jede Grenze hinweg. Ein Frostriese wird ebenso wenig einen Feuerzauber meistern können wie ein Tetzelwurm Wassermagie lernen kann. Eine Hexe aber kann beides.

Das ist ein Grund, warum ich die Hexe fürchte. Die frühere Stadthexe habe ich darum ebenfalls eher gemieden. Aber das ist eine alte Frau gewesen, mit dem runden, gütigen Gesicht einer märchenerzählenden Großmutter, dem verschwommenen, glasigen Blick eines Menschen, der seine Zeit überlebt hat und die neue nicht mehr versteht, und der schwindenden Kraft eines Wesens, welches sich bereits am Ende seines Weges befindet. Diese Hexe ist eher zu bedauern gewesen als zu fürchten und bei ihrem Begräbnis hatten viele von ihr gesagt, dass sie es jetzt endlich überstanden hätte und nun ausruhen könne.

Die neue Hexe ist jung, nur einige Jahre älter als ich. Sie hat nicht nur einen, sondern gleich zwei Vertraute. Statt schwarzer Kleider, die unter unzähligen Tüchern und Umhängen kaum sichtbar werden, trägt sie Kapuzentunikas und Lederhosen wie die meisten Jugendlichen hier und ihr schwarzes Haar quillt unter dem spitzen Hut hervor anstatt zu einem mit einem weiteren Tuch verhüllten Dutt aufgesteckt zu werden. Sie hat ein spitzes Kinn und eine spitze Nase, scharfe, grüne Augen und eine scharfe Zunge, benutzt weder Zauberstab noch Kristallkugeln und geht selbst auf den Markt, anstatt ihre Famuli zu senden oder die Händler zu Lieferungen aufzufordern.

Anders gesagt, ohne den Hut könnte man sie für ein ganz normales junges Mädchen halten. Ich weiß aber, dass sie das nicht ist und kann nicht entscheiden, ob das einfach ihre Art ist oder eine sehr raffinierte Tarnung. Und wenn es letzteres sein sollte, was sie dann dahinter verbirgt und vor allem, was für Pläne sie mit der Stadt und ihren Bewohnern hat. Oder mit mir. Denn auch die Art, wie sie mich ansieht, trägt zu meiner Furcht bei.

 Denn auch die Art, wie sie mich ansieht, trägt zu meiner Furcht bei

Oops! This image does not follow our content guidelines. To continue publishing, please remove it or upload a different image.
Wer vermisst schon eine Hexe? ✔️Where stories live. Discover now