4. Das Darling Haus

35 7 17
                                    

Die Erbschaftsverwalterin empfing Margo in ihrem Büro im Herzen Londons.

Lewis war eine kleine, rundliche Frau um die fünfzig, der man ihre jahrelange Berufserfahrung sofort anmerkte. Auch der Raum selbst strahlte Ruhe und Professionalität aus und war in warmen Erdtönen gehalten.

„Ich freue mich, dass es so kurzfristig bei Ihnen geklappt hat", sagte Lewis und reichte Margo den soeben für sie zubereiteten Kamillentee. „Auch, wenn der Anlass des Treffens natürlich weniger erfreulich ist."

„Wie am Telefon erwähnt, war der Kontakt zu meiner Urgroßtante nicht besonders eng", erwiderte Margo etwas apathisch. Eigentlich hatte sie nicht vorgehabt zu kommen und den Termin nur als Ausrede für Ted nutzen wollen, aber seit der seltsamen Vision des Hakenmanns in ihrer Wohnung, wollten die Erinnerungen an die Geschichten ihrer Urgroßtante einfach nicht mehr aus ihrem Kopf verschwinden. Kapitän Hook, Peter Pan, Neverland. Was steckte hinter alldem? Eine Verschwörung? Nutzte vielleicht irgendwer die Geschichten ihrer Urgroßtante als eine Art Code?

„Nun denn", begann Lewis und nahm ein braunes Kuvert zur Hand. „Sehen wir mal, was Ihre verstorbene Tante, Wendy Moira Angela Darling, Ihnen hinterlassen wollte."

Nun doch neugierig geworden, beugte sich Margo ein Stück vor.

„Hm ... okay", murmelte Lewis und zog ein mit dunkler Tinte beschriebenes Briefpapier daraus hervor.

„Hier steht:
Kennst du den Platz zwischen Schlafen und Wachen? Der Platz, wo deine Träume noch bei dir sind? Dort werde ich dich auf ewig lieben, Peter Pan. Dort werde ich auf dich warten."

„Das ist alles?", entschlüpfte es Margo ungläubig und die Erbschaftsverwalterin legte nachdenklich die Stirn in tiefe Falten. „Ich fürchte es fast. Oh nein, da ist noch etwas ..."

Lewis fischte einen alten, stark abgenutzten Schlüssel aus dem Kurier.

„Ist das ...?" Margo nahm den Schlüssel unsicher entgegen und drehte ihn zwischen den Fingern. Der goldene Lack war fast vollständig abgeblättert, aber jetzt, wo sie ihn in Händen hielt und betrachtete, erinnerte sie sich plötzlich auch wieder daran, wie ihre Urgroßtante ihn an einer Kette um den Hals getragen hatte.

„Alles in Ordnung?", erkundigte sich Lewis sanft und Margo nickte langsam, während ihre Gedanken unruhig taumelten.

Also hatte Wendy ihr das alte Darling Haus vererbt? Aber wieso?

*

Eine halbe Stunde später parkte Margo vor dem hoch aufragenden Haus ihrer Urgroßtante im Stadtteil Bloomsbury.

Es handelte sich um ein Gebäude im georgischen Stil, mit Dachgauben und Ornamenten, welches irgendwann zwischen 1720 und 1840 erbaut worden war.

Unschlüssig stieg die Polizistin aus und fischte den alten Goldschlüssel aus der Manteltasche.

Was genau machte sie hier eigentlich? Sie musste Liam finden und nicht nostalgischen Kindheitsfragmenten nachjagen. Aber irgendwas ... Margo konnte es nicht genau erklären. Es fühlte sich einfach richtig an, hier zu sein.

Hier würde sie Antworten finden.

Entschlossen stieg sie deshalb die wenigen Steinstufen empor und drückte den Schlüssel ins dafür vorgesehene Loch. Bedächtig drehte sie ihn herum und hörte das charakteristische Entriegeln eines alten Türschlosses. Die Tür schwang auf und Margo betrat mit laut klopfendem Herzen die mit Eichenholz vertäfelte Diele. Es war beinahe noch genau wie früher; nur hatte die Zeit einen traurigen Graufilter über alles gelegt. Die alte Biedermeierkommode aus Nussholz, mit der schönen Maserung, stand noch unbewegt da. Genau wie der goldene Schirmständer mit den Löwentatzen im Eingangsbereich. Von der hohen Decke baumelte ein gigantischer Kronleuchter mit abgebrannten Kerzenstümmeln, der seinen langen Schatten warf.

Lost Boy_A Neverland StoryWhere stories live. Discover now