10. Neverland

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Plötzlich nahm Margo eine Bewegung im Wasser wahr und drehte leicht den Kopf, ihre Locken bewegten sich wie ein Schleier im Wasser und versperrten ihr für einen Moment die Sicht. Dann sah sie den schlanken Körper einer wunderschönen Frau auf sich zu schwimmen. Nun, zumindest teilweise Frau, ihr Unterkörper endete nämlich in einem feuerroten Fischschwanz. Sie lächelte geheimnisvoll, während sie Margo neugierig umkreiste, einen ihrer Finger ausstreckte und der Polizistin prüfend damit gegen die Nasenspitze tippte. Ihr Haar war lang und dunkel, ihre Augen funkelten in einem intensiven, hellen Türkis. Margo sah die schöne Frau unverwandt an, während ihre Sinne dahinschwanden. Doch kurz bevor sie das Bewusstsein verlor, drückten sich weiche Lippen auf die ihrigen und Margo konnte ... atmen. Margos Klarheit kehrte nach und nach zurück, als die Meerjungfrau ihr durch den andauernden Kuss neues Leben einhauchte.

Dann bemerkte sie eine andere Form der Dunkelheit, die sich den beiden Frauen näherte. Auch die Fremde bemerkte es und löste sich ein wenig bedauernd von Margos Lippen. Tick Tock war immer noch da und durchstreifte sein Jagdgebiet nach Beute. Panik erfasste Margo und Luftbläschen verließen ungebremst ihren Mund. Die Meerjungfrau beobachtete den vorbeischwimmenden Giganten kritisch, dann umfasste sie Margos Handgelenk und riss sie hinter sich her. Margo wusste gar nicht wie ihr geschah, während sie durchs Wasser geschliffen wurde. Irgendwo weit entfernt sah sie Tick Tock, wie er ihr nachblickte, doch Meerjungfrauen bewegten sich wohl um einiges schneller und wendiger durch diese Tiefen.

Und kurz bevor Margo erneut vor der Ohnmacht stand, wurde sie emporgerissen und endlich endlich durchbrach sie die Wasseroberfläche und zog die begehrte Luft tief in ihre hungrigen Lungenflügel ein. Hustend blinzelte sie und versuchte herauszufinden, wo sie sich befand.

„Komm", sagte eine samtige Stimme und Margo wurde, diesmal weniger gewaltsam und mit dem Kopf an der Oberfläche, zu einem Felsen gezogen, der in Ufernähe aus dem Wasser sproß. Margo klammerte sich dankbar an dem rauen Stein fest und würgte ein wenig Salzwasser hervor. Ein liebliches Kichern erklang und im nächsten Moment schwamm die Meerjungfrau dicht neben ihr und musterte sie eingehend. Margo starrte zurück. „W-Warum hast du mich gerettet?" War das erste, was ihrer vom Salz rau gewordenen Kehle entwich. In den Geschichten hieß es doch immer, dass Meerjungfrauen grausame Wesen waren und andere schon mal „aus Spaß" ertränkten.

„Warum sollte ich dich nicht retten?", fragte sie verspielt zurück und stützte sich neben sie am Felsen auf.

„Aber ... ist das nicht so euer Meerjungfrauen-Ding?", fragte Margo und versuchte sich zeitgleich noch weiter aus dem Wasser zu hieven. Ihr Mantel hatte sich mit Meerwasser vollgesaugt und hing schwer an ihr herab, sodass Margo sich dazu entschied ihn auszuziehen. „Andere mit euch in den Abgrund zu reißen?"

Die Fremde lachte amüsiert auf und warf den Kopf zurück, jetzt im Sonnenlicht erkannte Margo, dass ihr Haar moosgrün schimmerte und ihre Haut genauso bleich war wie die ... nun ... einer Wasserleiche.

„Also ertränkst du gar keine Menschen aus reinem Vergnügen?", forschte Margo weiter nach, die langsam zu realisieren zu begann, dass die Geschichten ihrer Urgroßmutter von dieser stark romantisiert oder abgewandelt wurden. Na ja, irgendwo konnte sie es schon verstehen, manches hier passte auch eher in einen Horrorschmöker als in ein Gutenachtgeschichte für Kinder. Trotzdem ... eine kleine Vorwarnung oder ein Handbuch wäre ganz nett gewesen, Wendy!

„Doch, natürlich", erwiderte die Meerjungfrau schelmisch und ließ ihre Schwanzflosse aus dem Wasser hervorschellen, dessen engbesetzten Schuppen rot orange glühten, wie ein Feuerschweif. „Aber ich ertränke nur Kinder, keine Schönheiten wie dich."

Margo blickte sie wortlos an. Sie ertränkte also nur Kinder und rettete Erwachsene, die ihr optisch gefielen? Das war „Pretty Privilege" auf einer neuen Evolutionsstufe. „Jedenfalls ... danke für die Rettung", sagte Margo, denn auch wenn ihr die Gründe missfielen, ohne sie, wäre sie jetzt Tick Tock Futter.

Lost Boy_A Neverland StoryWhere stories live. Discover now